Andrea Richter zündet Kerzen an. Nicht nur eine, sondern viele. Sie verteilt sie liebevoll und konzentriert auf dem unebenen Boden im Seitenschiff des großen Gotteshauses, mitten in Brandenburg. Die Teelichter beleuchten farbkopierte Bilder gegen die Dunkelheit, darauf Symbole wie ein Musikinstrument und Sprüche, die an diesem Abend betrachtet werden sollen. Kalt ist es. "Die Kirche ist naturtemperiert", sagt Richter und lächelt. Sie weiß, später wird die Kälte den Kursteilnehmenden nicht mehr so wichtig sein. Ein meditativer Abend im Kloster Lehnin steht an. Der Ort ist geistliches Zentrum der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). Seit vier Jahren wirkt Pfarrerin Richter hier als landeskirchliche Beauftragte für Spiritualität. Sie gibt Seminare, begleitet und bildet aus.
"Spiritualität ist die Weise, wie ein Mensch mit Gott lebt und unterwegs ist", beschreibt sie. Christliche Spiritualität beginne da, wo "ich mich als einzelner Mensch nicht an Sätze und Vorgaben hefte, die andere über die Beziehung zwischen Gott und Mensch gemacht haben, sondern wo ich aus meinem Herzen heraus die innere Aufmerksamkeit zu Gott vollziehe". Dieses sei Grund und Kernakt des Glaubens. "Gott sieht mich und er lässt sich sehen. Ein Gott der da ist, der mir ermöglicht, ihn wahrzunehmen".
Spiritualität ist die Hoffnung und Erfahrung, dass es mehr als das Sichtbare gibt. Der Leipziger Theologie-Professor Peter Zimmerling beschäftigt sich damit wissenschaftlich: "Es gibt eine Wirklichkeit, die hinter, in und unter der sichtbaren Realität unseres Alltags sich verbirgt, existiert und diesen trägt."
Spiritualität heißt Kommunikation mit Gott und Öffnung des Herzens für meine eigene Umgebung. Für den Wilhelmshavener Pastor Bernhard Busemann bedeutet dies konkret: "Wachsam bleiben für das leise Liebeswort am Rande, das ich viel zu oft überhöre. Und immer bereit die kleine Träne zu weinen, wenn mich eine Begegnung oder ein Mensch oder eine leuchtende Kerze tief innen berühren."
Spiritualität entdecken
Doch wie entdecke ich meine eigene Spiritualität? Andrea Richter rät zu "Leitersprossen": Besuche von Gottesdiensten und das Beten seien erste Möglichkeiten. "Ich würde jemandem Bücher mit guten Gebeten, die Bibel und ein Gesangbuch in die Hand drücken. Fange an zu lesen und aus dem Lesen heraus die Gedanken zu Gott hin zu formulieren. Setze dich einen Moment hin, wenn du das Läuten der Glocken am Mittag und am Abend hörst. Entzünde eine Kerze und mache dir bewusst, Gott ist da und du auch." Sinnvoll seien zudem der Kontakt zu einer Gemeinde oder einem Menschen, mit dem man über die eigenen Erfahrungen, über Wünsche und Vorstellungen reden kann. "Gehe mit wachen Augen durch das Leben," so Richter. "Und traue dich, jemanden zu fragen: Kannst du mir sagen, wo ich Gott finden kann?"
Evangelische Spiritualität heiße christliche Vielfalt. Sie kenne nicht nur den einen wahren Weg, sie lebe von der Erprobung, der Einübung und dem Leben in der glaubenden Gewissheit. Sie sei Beheimatung in gelebter Frömmigkeit. Diese bewahre davor, so Peter Zimmerling, eigenes Handeln zu überschätzen. Mit Blick auf Nutzer kommerzieller Anbieter warnt er: "Manche geraten in der Spiritualität unter einem furchtbaren Druck. Sie sind bereit viel Geld auszugeben für Kurse und Kristalle. Sie glauben, wenn ich den Beitrag X bezahle, kommt die Erfahrung Y heraus."
Elke Kirchner-Goetze geht einen anderen Weg. Sie hat sich für eine Mitgliedschaft in der "Evangelischen Geschwisterschaft", zu der Familien, Frauen und Männer gehören, entschieden. "Spiritualität ist in der Gemeinschaft leichter. Sie trägt in Zeiten, wo es für mich schwer ist," so die Religions- und Gemeindepädagogin. Tagzeitengebete helfen ihr, sich in Worte aus der Tradition und liturgische Formen fallen zu lassen. Schön sei es aber auch, eigene Worte zu finden. Sie betet unterwegs, in der U-Bahn oder "wenn ich in meinem Garten sitze!" Kirchner-Goetze rät zur Nüchternheit: Sie gehöre zur Spiritualität, "weil wir als Christinnen und Christen der Welt zugewandt sind und in Beziehungen zu ihr leben - trotz Kontemplation."
Die Grundelemente christlicher Spiritualität
Bundesweit haben sich evangelische Interessierte an christlicher Frömmigkeit in Gruppen zum Austausch verbunden. Ein Beispiel ist das Berliner "Netzwerk christliche Spiritualität". Es versteht sich als jährliches "Forum für alle, die in Bindung an die Bibel und in der Achtung vor dem vielfältigen Reichtum christlicher Tradition Spiritualität lernen, üben und leben". Gemeinsam gaben sie sich verbindende "Grundelemente christlicher Spiritualität", die hier gekürzt wiedergegeben werden:
- Gott begegnen: Glauben kann man nicht, ohne Gott zu lieben. Liebe aber ist eine personale Kategorie. Christliche Spiritualität ist immer Begegnung mit dem lebendigen Gott, ist darum Liebesmystik und keine Selbstmystik.
- Christus nachfolgen: Im Gegensatz zu Entwürfen, denen es um eine Selbstvervollkommnung beziehungsweise Vergöttlichung der Seele geht, verweist christliche Spiritualität auf den Weg der Nachfolge, die in letzter Konsequenz Kreuzesnachfolge bedeutet.
- Die Heilige Schrift lesen: Christliche Spiritualität orientiert sich an der Bibel als dem Wort, das Gott uns geschenkt hat. Wer Gott ist und was unsere spirituellen Erfahrungen bedeuten, wissen wir durch das Zeugnis der biblischen Schriften.
- Sich übend der Gnade überlassen: Christliche Spiritualität ist kein Leistungs-und auch kein Erlösungsweg. Wir gehen diesen Weg des Übens nicht mit dem Ziel, etwas zu verdienen oder zu erwerben.
- In der Kirche leben und glauben: Glaubend und betend gehören wir Menschen auf dem Weg christlicher Spiritualität in die Gemeinschaft der Kirche, auch wenn unser persönlicher geistlicher Weg immer Züge der Einsamkeit in sich trägt. Einsames Beten, Hören und Schweigen verweist immer auf die Gemeinschaft der Glaubenden und damit auf die reale Kirche.
- Gottes Wege suchen und gehen: Religiöse Sehnsucht wird immer wieder biografischer Einsatzpunkt christlicher Spiritualität, ihre Erfüllung wird immer wieder zeitweilige Begleiterscheinung sein, immer Gegenstand christlicher Hoffnung, nicht aber deren angestrebtes unmittelbares Ziel und vor allem nicht deren Begründung. Christliche Spiritualität ist Pilgerschaft, ist Teilhabe an Gottes ständigen Umwegen.
- Der Welt dienen: Von ihrer innersten Ausrichtung als Zuwendung zu Gott weist uns christliche Spiritualität dorthin, wo Gott gewiss und immer zu finden ist: zu den Armen, den Mühseligen und Beladenen und damit zu Gottes geschundener Welt.
Es ist mittlerweile spät geworden in der großen Lehniner Klosterkirche St. Marien. Andrea Richter sammelt die Kerzen an den Meditationsstationen wieder ein. Leise spricht sie über ihr Verständnis christlicher Spiritualität: "Es frommt mir etwas, es bringt und nutzt mir etwas. Es geht nicht um Wellness und Wohlbefinden. Durch meine Frömmigkeit eröffne ich Gott meinen inneren Raum, in dem er mich ansprechen kann, in dem ich mit ihm zusammen sein kann." Sie ergänzt nachdem sie die Kirchentür abgeschlossen hat: "Spiritualität eröffnet Räume für die Begegnung mit Gott. Sie sucht nach Traditionen und Wegen der Lebens- und Liebesbeziehung zu ihm."