Aus diesem Buch veröffentlicht evangelisch.de einen Auszug aus dem Gespräch, das der Politiker Gregor Gysi (Die Linke) mit Käßmann und Bedford-Strohm geführt hat.
Gregor Gysi: Friedrich Schorlemmer, mit dem ich öfter mal Gespräche führe, schätzt Martin Luther sehr und sagt oft: "Zum Schluss hat er nur noch Dinge geschrieben, da wäre ich froh, wenn er sie nicht geschrieben hätte. Aber vorher schrieb er so viele vernünftige Sachen." Das bezieht sich natürlich auch auf das Thema Juden, was Schorlemmer da sagt. Kann man, um das dann auch abzuschließen, Luther tatsächlich so einteilen, dass man sagt: "Es gab unterschiedliche Zeiten, aber zu Beginn war er doch ein Mann des Fortschritts"? Die Übersetzung der Bibel war ja geradezu fantastisch und auch seine Thesen gegen den Ablasshandel. Wurde er zum Schluss ein anderer, Strengerer, und hat das heute weniger Relevanz? Oder ist diese Unterscheidung nicht sinnvoll?
Heinrich Bedford-Strohm: Ich würde das jedenfalls nicht auf solche Phasen reduzieren. Auch innerhalb der unterschiedlichen Zeiträume ist nicht alles, was er schreibt, auf einer Linie. Wenn man sich zum Beispiel Luthers Kritik an den Zuständen seiner Zeit anschaut, dann muss man sagen, er hat auch in der Endphase seines Lebens noch beißende Kritik geäußert, die berechtigt war. Die "Vermahnung an die Pfarrherren, wider den Wucher zu predigen" von 1539 ist eine deutliche Kritik an dem, was wir heute Kapitalismus nennen, und an der Ausbeutung der Armen. Es ist ein Aufruf an die Pfarrer, gegen diese Zustände zu predigen. Da würden viele Menschen heute sagen, auch wenn er in seiner Sprache manchmal deftig ist und heute wahrscheinlich eine Beleidigungsklage dafür kriegen würde, hat er Punkte angesprochen, die nach wie vor hochrelevant sind. Dennoch hat er sich in anderen Punkten schlicht und einfach fürchterlich geirrt.
Margot Käßmann: Wir können aber schon sagen, dass Luther bis 1525 einen Schub an Kreativität hatte. Damals verfasste er seine größten und besten Schriften – in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Er hat ja nicht mit dem Computer geschrieben. Das müssen Sie sich mal vorstellen, dass das alles handgeschrieben war. Später jedoch – ich will das jetzt nicht genau an Jahreszahlen festmachen – wurde Luther sehr verbittert: als er realisierte, dass er seine Reformation genauso wenig universal durchsetzen würde, wie der Papst seine eine Papstkirche erhalten konnte. Zum Schluss war er dann ein kranker alter Mann, der auch sehr heftige Schriften geschrieben hat. Da würde ich Friedrich Schorlemmer recht geben, diese Schriften lese ich auch nicht gern.
Gysi: Kommen wir auf das Verhältnis zwischen Christentum und Moral zu sprechen. Ich weiß, dass das zum Teil missverstanden wird. So als ob das Christentum nur Moral sei, was ja Quatsch ist. Es geht ja auch um eine Lebensweise, um Verantwortung und vieles andere mehr. Trotzdem gibt es von Dostojewski diesen Spruch: "Gäbe es keinen Gott, wäre alles erlaubt." Das heißt, dann gäbe es gar keine Orientierung, keine Regeln. Ich habe einmal die These aufgestellt, dass die Linke durchaus mal in der Lage war, allgemeinverbindliche Moralnormen aufzustellen – gerade im Sozialbereich. Durch das Scheitern des Staatssozialismus hat sich das geändert. Die Linke kann zwar Moralnormen aufstellen, aber die werden nicht allgemeinverbindlich. Diese Stellung hat sie zurzeit nicht. Dass wir in unserer Gesellschaft überhaupt noch allgemeinverbindliche Moralnormen haben, sage ich, liegt an den Kirchen und Religionsgemeinschaften. Glauben Sie das auch? Würden Sie meine These unterstützen und sagen: "Ja, wenn es uns nicht gäbe, hätten wir hier keine allgemeinverbindlichen Moralnormen"?
Bedford-Strohm: Zunächst einmal freue ich mich natürlich, dass Sie diese These auch öffentlich vertreten. Ich habe sie nämlich zum ersten Mal im Reichstag gehört, als wir zusammen dort waren, im kleinen Kreis. Und ich habe mich nicht getraut, sie öffentlich weiterzugeben, weil ich nicht wusste, ob sie für die Öffentlichkeit gedacht war. Aber in einem Gespräch mit Günter Beckstein haben Sie das ja letztens auch noch einmal thematisiert. Nun müssen wir natürlich aufpassen, dass wir uns als Kirchen nicht zu sehr selbst aufs Podest heben. Dennoch: Die religiösen Grundfragen, denen wir in der Kirche nachgehen, haben eine zentrale Bedeutung. Denn die Frage: "Wie leben wir eigentlich?" ist ja nicht nur eine Kopffrage, sondern ist tief in der Seele verwurzelt. Wenn Menschen glauben und diese Orientierung ihr ganzes Leben bestimmt, hat das auch Auswirkungen auf ihr Verhalten. Im Christentum sind Gottesliebe und Nächstenliebe untrennbar miteinander verbunden. Das ist etwas ganz Zentrales. Denn es bedeutet, dass man gar nicht glauben kann, ohne bestimmte Orientierungen im Leben für sich als verbindlich anzusehen. Das hat natürlich Konsequenzen – auch für die Gesellschaft.
Gysi: Frau Käßmann, dazu würde ich gern auch Ihre Meinung hören. Und dann stelle ich noch eine zusätzliche Frage. Ich habe mit einem verantwortlichen Polen gesprochen. Er hat mir erklärt, dass Polen ungeeignet sei für Menschen muslimischen Glaubens. Daraufhin habe ich ihn gefragt, ob er katholisch sei, und er antwortete, er sei sogar sehr katholisch. Ich habe ihm dann gesagt, es könne doch nicht ernsthaft sein, dass ich als nichtreligiöser Mensch ihm die Bergpredigt erklären müsse. Das finde ich bemerkenswert: Er scheint regelmäßig zur Kirche zu gehen, aber er verinnerlicht zum Beispiel die Aufforderung zur Barmherzigkeit offenkundig nicht. Oder sehe ich das falsch?
Käßmann: Das kann ich bei den derzeitigen Diskussionen in Europa überhaupt nicht nachvollziehen. Vor allen Dingen würde ich der Pegida-Bewegung absprechen, für das christliche Abendland eintreten zu dürfen, denn das tun sie gerade nicht. Das christliche Abendland, wenn man überhaupt davon reden will, ist geprägt durch Nächstenliebe und Barmherzigkeit: "Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan", sagt Jesus. Solche biblischen Grundsätze müssten im christlichen Abendland eine Rolle spielen. Beide großen Kirchen betonen das auch immer wieder. Ökumenisch ist das für uns in Deutschland sehr klar. Da sind andere Gesellschaften anders geprägt. Ich sehe natürlich auch die Schattenseiten des Christentums und weiß, dass im Namen des Christentums Furchtbares getan wurde. Das wollen wir gar nicht verstecken, wir können uns dieser Geschichte stellen. Aber die Grundüberzeugung, dass der einzelne Mensch Würde hat, dass es wichtig ist, für die Schwachen einzutreten, das hat Europa schon geprägt. Einigen Europäern müssen wir das im Moment allerdings erst wieder nahebringen. Und auch einigen Menschen, die zu christlichen Kirchen gehören, muss das offensichtlich wieder deutlich gesagt werden. Es geht einfach nicht, zu sagen: "Ich bin ein guter Christenmensch, aber die Flüchtlinge, die nehme ich nicht auf." Das passt nicht zusammen.
Bedford-Strohm: Wenn man sich anschaut, was bei diesen Demonstrationen zum Teil für Symbole gezeigt werden, dann bekommt man schon das kalte Grausen. Da werden christliche Symbole missbraucht. Es werden Kreuze gezeigt, die schwarz-rot-gold bemalt sind. Da sage ich in aller Klarheit: Das Kreuz Jesu Christi trägt nicht schwarz-rot-gold! Das Kreuz ist ein Symbol für den Sohn Gottes, der den Schwachen zur Seite steht. Margot Käßmann hat eben die berühmte Stelle aus Matthäus 25 genannt. "Was ihr dem geringsten meiner Brüder" – wir ergänzen heute "Schwestern" – "getan habt, das habt ihr mir getan." Jesus hat am Kreuz geschrien: "Mein Gott, mein Gott! Warum hast du mich verlassen? " Es ist eine ungeheure Sache, dass wir von unserem Gott sagen, er tue in seinem Sohn so einen Ausruf. Es stellt uns an die Seite derjenigen, die verzweifelt sind, die vielleicht als Folteropfer ums Leben kommen, so wie Jesus als Folteropfer am Kreuz gestorben ist. Das ist das Faszinierende an der Passionszeit: Karfreitag zeigt die ganze Abgründigkeit des Leidens, nichts wird beschönigt. Ostersonntag zeigt dann: Das Leid hat am Ende nicht das letzte Wort. Wer so geprägt ist, der kann nicht gegen Menschen hetzen.
Gysi: Es gab in der DDR "Die zehn Gebote der sozialistischen Moral" von Walter Ulbricht. "Du sollst sauber und anständig leben und deine Familie achten", hieß es da zum Beispiel, und: "Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen." Diese Gebote waren ziemlich jüdisch-christlich geprägt, ohne dass Ulbricht es gemerkt haben muss – so sehr, dass ich es fast schon wieder witzig fand. Was mich so gestört hat an Pegida, war der Ruf: "Wir sind das Volk!" Ursprünglich war der Ruf "Wir sind das Volk!" gegen die Obrigkeit gerichtet. Wenn man das nun gegen die Schwächsten in der Gesellschaft ruft, ist das völlig daneben.