Wie alt sind die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UMF), die sie vermitteln?
Wiesinger: Die meisten kommen im Alter von 15 oder 16 Jahren nach Deutschland. Wie in der allgemeinen Vollzeitpflege können die jungen Flüchtlinge auch über die Volljährigkeit hinaus in der Gastfamilie bleiben und durch das Jugendamt unterstützt werden. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass es nicht um kleine Kinder geht. Wir hatten vergangenes Jahr Anfragen von Menschen, die sagten, sie hätten gerne ein syrisches kleines Mädchen im Alter von drei Jahren. Das ist es meistens nicht. Es besteht vielleicht auch nicht immer ein Erziehungsauftrag. Manchmal ist es auch ein Begleitungsauftrag. Man sollte in dem Wissen ansetzen, dass da ein junger Mensch ist, der schon sehr viel erlebt und durchgemacht hat, aber auch sehr viel bewältigt und gemeistert hat. Deshalb ist oft die Unterstützung bei der Verselbständigung, zum Beispiel in einer eigenen Wohnung, ein wichtiges Ziel. Die Gastfamilien oder Paten haben dann den Auftrag, die jungen Menschen ins Leben, in unsere Gesellschaft und Kultur hinauszubegleiten. Es geht also darum, ein gutes Ankommen, aber auch ein gutes „Gehen“ zu ermöglichen.
Gibt es ein Mindest- und Höchstalter für Gastfamilien?
Wiesinger: Man sollte mindestens 25 Jahre alt sein, so dass man eine möglichst stabile Persönlichkeit und ein bisschen Lebenserfahrung gesammelt hat. Im Gegensatz zur allgemeinen Vollzeitpflege ist das Alter für die Betreuung der UMF nach oben hin offen. Es können sich auch Menschen bewerben, die bereits ältere Kinder haben oder deren Familienphase schon abgeschlossen ist. Gerade mit Gasteltern, die nicht mehr in der Erziehungsverantwortung für ihre eigenen Kinder stehen und eine neue Aufgabe suchen, haben wir sehr positive Erfahrungen gemacht.
Doch auch wenn noch jüngere Kindern in der Gastfamilie leben, kann das Zusammenleben gut gelingen. Denn viele Jugendliche kommen aus Kulturen, in denen man sich liebevoll und schnell um kleinere Kinder kümmert. Sie bringen teilweise Großfamilienerfahrung aus ihren Herkunftsländern mit und das kann bereichernd sein.
"Die restriktive Rechtslage beeinträchtigt auch das Leben der Gastfamilie."
Wer kann unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) aufnehmen?
Irmela Wiesinger: Im Prinzip sind viele Menschen geeignet. Der erste Schritt ist, mit dem Jugendamt Kontakt aufzunehmen. Wichtig ist uns, dass sich Gastelternbewerber über ihre eigenen Motive, Kompetenzen und Grenzen im Klaren sind. Es ist etwas Besonderes, einen jungen Menschen mit einer Fluchtgeschichte aufzunehmen. UMF sind aufgrund ihrer Fluchterfahrung oft körperlich und psychisch belastet und haben gleichzeitig wichtige Entwicklungsphasen noch nicht abgeschlossen. Interessierte Gasteltern werden in einem Vorbereitungssprozess durch Fachkräfte des Jugendamtes für diese spezielle Aufgabe qualifiziert. Dazu gehören auch Hausbesuche, um einen unmittelbaren Eindruck von den Bewerbern und ihren Voraussetzungen zu bekommen.
Dann gibt es noch ein paar formale Voraussetzungen, wie ein polizeiliches Führungszeugnis sowie ein gesundheitliches Attest. Die Frage nach dem polizeilichen Führungszeugnis ist übrigens eine Vorgabe und hat nichts mit persönlichem Misstrauen zu tun. Dann müssen Bewerber ihre finanzielle Situation darstellen, in Form der letzten drei Gehaltsauszüge. Das Jugendamt will einfach wissen, dass der junge Mensch in einen einigermaßen gesicherten Rahmen kommt. Eine bestimmte Lebensform, ob man verheiratet ist oder eigene Kinder hat, wird nicht vorausgesetzt.
Sie sagten, die Motivation sei wichtig?
Wiesinger: Bewerber sollten bereit sein, sich damit auseinanderzusetzen, dass diese jungen Menschen meist extreme Gewalt, Armut und Ohnmachtserfahrungen erlebt haben. Diese Erfahrungen können irgendwann hochkommen. Sicherlich nicht in der Anfangszeit. Aber vielleicht in einer späteren Phase. Außerdem haben die jungen Menschen oftmals eine ungewisse Aufenthaltsperspektive und damit verbunden eine eingeschränkte Mobilität. Ihre Zukunft lässt sich erstmal nicht auf lange Sicht planen. Die restriktive Rechtslage beeinträchtigt auch das Leben der Gastfamilie. Wenn man zum Beispiel den Urlaub nicht im Ausland verbringen kann.
Gibt es einen bewährten Weg der Vorbereitung auf das Zusammenleben?
Wiesinger: Sehr hilfreich kann es sein, wenn vor der Aufnahme schon ein Kontakt zu einem jungen Geflüchteten besteht. Wenn die Gasteltern vielleicht schon ehrenamtlich engagiert waren und dann sagen: 'Jetzt wollen wir Gastfamilie werden für den 17-jährigen Masoud. Den kennen wir aus dem Deutschunterricht. Da ist eine Sympathie da.'
Wenn sich Menschen bei uns melden, die bisher keine persönliche Berührung mit dem Thema hatten, versuchen wir den Bewerbern die vielfältigen Herausforderungen dieser Aufgabe zu vermitteln. Interessenten sollten ihre Erwartungen und Wünsche, die sie an den jungen Menschen richten, hinterfragen. Sich zudem fragen, welche Erziehungsvorstellungen sie haben und wie sie mit kultureller Fremdheit umgehen. Zudem sollten Bewerber bereit sein, sich in Gefühle, Erwartungen und Selbstbilder der Jugendlichen hineinzuversetzen.
Sie bieten für Interessierte Vorbereitungsseminare an. Worum geht es?
Wiesinger: Unser Vorbereitungsseminar besteht aus drei bis vier Infoabenden und einem Wochenend-Seminar. Inhalte sind beispielsweise die besondere rechtliche und soziale Situation junger Flüchtlinge, der Umgang mit Folgen von Traumatisierung im Alltag, die Bedeutung von Flucht auf die Identitätsentwicklung, aber auch die Stärken und Potenziale dieser Jugendlichen.
Wenn Leute zweifeln, ob sie den Anforderungen gerecht werden oder sogar Angst vor den Jugendlichen mit ihren Erfahrungen haben, kann man potenziellen Bewerbern diese Ängste nehmen?
Wiesinger: Wir legen viel Wert auf eine Anbahnungs- beziehungsweise Kennenlernphase, zum Beispiel durch Gespräche mit Dolmetschern, Ausflüge, Besuche an Wochenenden. Die Zeit des Kennenlernens hilft, Ängste zu reduzieren. Wenn sich Gastfamilie und Jugendlicher füreinander entschieden haben, werden sie zudem weiterhin durch die Fachkräfte des Jugendamtes beraten und unterstützt.
Gibt es noch eine andere Möglichkeit, wenn man einen Jugendlichen nicht gleich in den eigenen Haushalt aufnehmen möchte oder kann?
Wiesinger: Wenn man diesen Schritt erstmal nicht wagen will, dann gibt es auch die Möglichkeit einer Patenschaft. Die jungen Menschen freuen sich auch, wenn sie einen regelmäßigen Kontakt haben. Was sich dann daraus entwickelt, bleibt offen. Das Schöne ist: Bei einer Patenschaft geschieht Integration ganz nebenbei und selbstverständlich. Es gibt einige Jugendliche die den Wunsch nach einem Paten äußern, weil er ihnen die Exklusivität einer Beziehung, wie in einer Familie, verspricht. Sie möchten als individuelle Persönlichkeit wahrgenommen werden. Wir merken dies besonders bei den Jugendlichen, die im Herbst des letzten Jahres angekommen sind. Da erstmal die Notversorgung im Vordergrund stand, haben viele Angst davor, in der Masse unterzugehen. Die Jugendlichen genießen den persönlichen Kontakt sehr und erzählen von ihren Paten. Andere bekommen das mit und wir werden deshalb vermehrt von Jugendlichen darauf angesprochen.
Wie hoch sind der finanzielle Aufwand und die Verantwortung für eine Gastfamilie?
Wiesinger: Die gesetzliche Grundlage für die Betreuung in der Gastfamilie ist die Vollzeitpflege nach Paragraf 33 SGB VIII. Diesen fachlichen Standard setzen wir hier ganz genauso. Zusätzlich begleitet das Jugendamt fachlich und kontinuierlich die Familien. Auch der Vormund spielt eine Rolle, der statt der Eltern die rechtliche Verantwortung trägt und regelmäßig Kontakt hält zu dem Jugendlichen.
"Unsere künstliche 18-Jahres-Grenze passt oft nicht zum Stand der Entwicklung und zum Bedarf der Jugendlichen."
Wie werden eigene Kinder in den Anbahnungsprozess miteingebunden?
Wiesinger: Im Rahmen der Vorbereitung werden auch die eigenen Kinder miteinbezogen. Es ist wichtig, dass alle Familienmitglieder hinter dieser Entscheidung stehen. Die Ansprechpartnerin des Jugendamtes wird mit den etwas älteren Kindern ein Gespräch führen, da sich das Zusammenleben in der Familie ja für jedes Mitglied verändern wird. Erst wenn alle ja sagen‚ geht es in ein Vorbereitungsseminar, in dem auch viele Fragen oder Unsicherheiten noch geklärt werden können.
Wie hoch ist der Zeitaufwand für die Gastfamilie?
Oft wirken die jungen Flüchtlinge vordergründig sehr selbständig. Sie mussten ja Überlebensstrategien entwickeln, deshalb können viele gut ihren Alltag organisieren, einkaufen und kochen, kommen schnell in einer Stadt zurecht. Aber häufig täuscht dieser erste Eindruck: Die Jugendlichen brauchen eine Bezugsperson, die Zeit schenkt, zuhört und ihnen mit einer Haltung der respektvollen Neugier begegnet. Es braucht ja Zeit, um Vertrauen aufzubauen.
Zudem fallen Termine und Ämtergänge an, beispielsweise bei der Ausländerbehörde, mit dem Vormund, im Jugendamt oder in der Schule. Auch die Unterstützung bei der Suche nach einem Ausbildungs- oder Praktikumsplatz kann zeitintensiv sein. Deshalb sollte es in der Gastfamilie eine Person geben, die nicht Vollzeit berufstätig ist.
Und wenn es gar nicht funktioniert, gibt es immer die Möglichkeit, dass die Jugendlichen zurück in eine Jugendhilfeeinrichtung gehen?
Wiesinger: Ja. diesen doppelten Boden gibt es und auch wenn die Hilfe regulär beendet wird und der junge Mensch in eine eigene Wohnung zieht, sind die Beziehungen zu den ehemaligen Gasteltern oder Paten meist sehr tragfähig und bestehen fort. Das heißt, die jungen Leute haben dann immer noch einen Ort, an dem sie andocken können. Denn gerade den unbegleiteten jungen Geflüchteten fehlt die schützende Beziehung zu den Eltern und auch der Amtsvormund steht nach der Volljährigkeit nicht mehr zur Verfügung. Unsere künstliche 18-Jahres-Grenze passt oft nicht zum Stand der Entwicklung und zum Bedarf der Jugendlichen. Da kann die ehemalige Gastfamilie eine sehr große Hilfe sein.