Berlin (epd). Den Deutschen geht es nach Einschätzung von Wirtschaftsexperten heute besser als vor zehn Jahren. Die verbreitete Auffassung, die Kluft zwischen Arm und Reich wachse immer weiter, müsse zurückgewiesen werden, sagte der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW), Michael Hüther, am Montag in Berlin bei der Vorstellung des Faktenchecks "Gerechtigkeit und Verteilung in Deutschland". In den vergangenen zehn Jahren habe die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen nicht zugenommen. Die Hans-Böckler-Stiftung sieht die Ergebnisse kritisch.
Anteil normaler Arbeitsverhältnisse gestiegen
Von 2009 bis 2013 seien die Bruttoerwerbseinkommen der unteren zehn Prozent der Vollzeitbeschäftigten um 6,6 Prozent gestiegen, erklärte das IW, das von Wirtschaftsverbänden finanziert wird. Dem gegenüber hätten die reichsten zehn Prozent ihre Einkommen im selben Zeitraum um 2,8 Prozent steigern können.
Die tariflichen Stundenlöhne seien ebenfalls seit 2007, dem letzten Jahr vor der Finanzkrise, preisbereinigt um acht Prozent gestiegen. Dies sei Geringverdienern überdurchschnittlich zugute gekommen. Anders als oftmals vermutet, sei auch die Vermögensungleichheit in Deutschland nicht weiter gewachsen.
Ein wesentlicher Grund dafür sei eine gute Entwicklung am Arbeitsmarkt, sagte Hüther. Der Anteil normaler Arbeitsverhältnisse an der erwerbsfähigen Bevölkerung habe sich seit 2006 immer weiter erhöht. Im vergangenen Jahr lag er laut IW bei 46,5 Prozent. Das sei der Höchststand seit der Wiedervereinigung. Seit 2007 sei außerdem kein Zuwachs bei den Niedriglohnbeziehern zu beobachten.
Hüther mahnte, Politik und Gesellschaft müssten die "positiven Seiten der wirtschaftlichen Entwicklung wahrnehmen und nicht alles schwarz malen". Deutschland erlebe insgesamt eine Boomphase.
Hans-Böckler-Stiftung: Geringere Aufstiegschancen
Dagegen verweist die Hans-Böckler-Stiftung auf den jährlichen Verteilungsbericht ihres Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI). Die jüngste Ausgabe von Ende 2015 zeige, dass die Wirkungen des wirtschaftlichen Aufschwungs seit der Finanzkrise ungleich verteilt seien. Die wirtschaftliche Polarisierung sei längst noch nicht ausgeglichen.
Besonders problematisch bewertete das WSI, dass die Aufstiegschancen ärmerer Haushalte über die vergangenen drei Jahrzehnte gesunken seien. Für die Mittelschicht sei hingegen das Risiko gewachsen, finanziell abzusteigen. Auch die Spreizung der Einkommen habe zuletzt wieder zugenommen, nachdem während der Finanzkrise ein leichter Rückgang zu beobachten war, hieß es im jüngsten Verteilungsbericht.