Herr Gebauer, warum lieben so viele Menschen den Fußball?
Gunter Gebauer: Der Fußball enthält Elemente, die unser Leben und unsere Gesellschaft bestimmen. Die Leistung ist wichtig, das Arbeiten für ein Ziel, die Vorbereitung. Das symbolisiert das Training der Spieler. Aber es gibt ein sehr starkes Zufallsprinzip - der Zufall kann alles Können zunichte machen. In kaum einem Sport ist der Zufall so entscheidend wie beim Fußball. Das liegt daran, dass der Gebrauch der Hände verboten ist. Dabei sind das die hochentwickeltsten Körperteile, die unsere Kultur überhaupt erst ermöglicht haben. Hinzu kommt, dass der Ball nicht komplett zu kontrollieren ist. Selbst die geschicktesten Spielzüge können kläglich enden.
Also zeigt der Fußball das Leben im Kleinen?
Gebauer: Ja. Das Können wird prämiert, aber die Spieler werden wieder und wieder vor eine Situation des Scheiterns gestellt. Das passt zu unserer Kultur: Das Können wird prämiert - und das Scheitern sehr gefürchtet. Deshalb ist vieles in unserer Gesellschaft darauf angelegt, sich vor dem Scheitern abzusichern, beispielsweise durch viele Versicherungen.
In der Bundesliga fiebern viele Fans mit ihrem Verein mit. Warum verschreiben sie sich einer Mannschaft?
Gebauer: Viele Fans identifizieren sich mit ihrem regionalen Verein. Die regionale Identität wird zunehmend über Fußball vermittelt. Die Vereine sind Sinnstifter, über sie erhalten die Regionen eine besondere Bedeutung, wie es beispielsweise mit Schalke 04 oder dem FC Barcelona geschieht. Das gilt insbesondere für die großen Traditionsvereine in der Bundesliga. Und deshalb erleben es die Fans auch als so schlimm, wenn diese absteigen und in der zweiten Liga verschwinden, denken Sie nur an den 1. FC Kaiserslautern.
"Die Zuschauer bilden eine Gemeinde"
Ist diese Sinnstiftung mit einer Religion vergleichbar?
Gebauer: Die Religionssoziologie sagt, das Religiöse entsteht aus gemeinsamen Ritualen. Das ist beim Fußball auch so. Die Fans importieren viel aus religiösen Riten der Kirchen. Sie singen ihre Lieder kirchenchorartig zusammen. In den Gesängen ist wie in einer Religion von Glaube, Liebe und Hoffnung die Rede. Die Zuschauer bilden eine Gemeinde, die das reale Spielgeschehen mit Gefühlen der Verehrung auflädt. Viele Anhänger gehen ins Stadion, weil sie die Sehnsucht haben, die Alltagswelt zu überschreiten.
Die Fans verehren manche Spieler wie Heilige.
Gebauer: Es ist in der Gesellschaft doch generell sehr verbreitet, Menschen zu verehren, die es geschafft haben, in kurzer Zeit aus kleinen Verhältnissen in die Klasse der Höchstverdiener aufzusteigen. Das gilt für eine ganze Reihe von Fußballern.
Dabei leben die Stars in einer ganz anderen Welt als das Publikum.
Gebauer: Das war bei den klassischen Helden genauso: Sie lebten am Königshof, weit weg von denen, die sie bewunderten. Weil Journalisten die Heldengeschichten aufschreiben, entsteht eine künstliche Nähe.
Sind die Fußballhelden denn wirklich Vorbilder?
Gebauer: Nein, auch wenn das in der Öffentlichkeit oft behauptet wird. Die Bedeutung fairen Verhaltens ist im Fußball mindestens in Frage gestellt. Man kann das daran sehen, dass der Ball nicht mehr automatisch ins Aus gespielt wird, um das Spiel zu unterbrechen, wenn ein Spieler verletzt am Boden liegt. Die Kommerzialisierung treibt die Preise für Misserfolg in die Höhe. Fairness ist nur noch dann gefragt, wenn es dem eigenen Verein nicht in einem Spiel unmittelbar schadet. Das passt zur generellen Entwicklung in der Gesellschaft. Man muss sich nur die Skandale zahlreicher traditioneller Großkonzerne anschauen. Es hat sich allgemein die Auffassung durchgesetzt, dass man sich Ehrlichkeit heutzutage nicht mehr leisten kann. Im Fußball spiegelt sich dieser moralische Verfall wider.