Als der Attentäter von Nizza am 14. Juli einen Lastwagen über den Boulevard des Anglais steuert und 84 Menschen totfährt, stürzt er nicht nur die Angehörigen seiner Opfer in tiefe Trauer und Verzweiflung. Er hinterlässt auch in seinem Heimatland Tunesien verstörte Familienangehörige und geschockte Nachbarn – und stigmatisiert seine Heimatstadt ein zweites Mal: Im Sommer zuvor hatte ein einheimischer Extremist an einem Hotel-Strand 36 europäische Touristen erschossen.
Danach hatten Jugendliche aus Sousse ein Jahr lang mit viel Mut und Phantasie daran gearbeitet, Einheimischen und Touristen die Furcht vor erneuten Attacken zu nehmen. Mit Kulturveranstaltungen auf öffentlichen Plätzen, sozialer Fürsorge für Arme und Alte und Entrepreneur-Workshops hatte die Initiative "weloveSousse" ("Wir lieben Sousse") das hässliche Etikett von ihrer Stadt heruntergekratzt – und begonnen, an einer Zukunftsperspektive für sich und ihre Stadt zu arbeiten. Um sie und ihre Arbeit zu porträtieren, war ich hergekommen. Und nun? Wieder ein junger Mann aus Sousse als Täter. Würde das so in der öffentlichen Erinnerung hängen bleiben? Diese Sorge, sagt Ruth Daniels von der britischen Initiative "In Place of War", ängstigt und lähmt Jugendliche aus Regionen, die von Terrorismus betroffen sind.
Der Initiator der Jugendbewegung, Anis Boufrikha, hat mit unerschöpflicher Zuwendung und Energie über 60 junge Männer und Frauen aus unterschiedlichsten Elternhäusern motiviert, sich für den Aufbau einer verantwortungsvollen Zivilgesellschaft in Tunesien verantwortlich zu fühlen. Sein "welove"-Konzept könnte zur Blaupause für nachhaltige Jugendarbeit werden. Fares, ein junger Koch, ist begeistert dabei: "Die Arbeitsatmosphäre bei 'weloveSousse' gibt uns Kraft. Wir spüren, dass wir stark sind, wenn wir zusammen arbeiten." Mit "Bab el Bahr" (Tor zum Meer), einem zweitägigen Musik- und Kultur-Festival, lädt das Team nach Ende der Fastenzeit zum Feiern auf Plätzen und am Strand ein. Ihre ägyptische Partnerinitiative "Agora" ist mit einem Dutzend junger Straßenzirkus-Artisten aus Alexandria zur Unterstützung angereist.
"Durch unser Festival können wir zeigen, dass wir trotz dieser Geschehnisse stark bleiben und das kulturelle Leben weitergeht", erklärt Bouzemi ihre Motivation für ihr wochenlanges ehrenamtliches Engagement: "Wir hören weiter Musik, lachen und haben auch Spaß. Damit hören wir nicht auf, nur weil Terroristen unser Leben stilllegen wollen." In einem zweiten Schritt will "weloveSousse" die europäischen Touristen an die herrlichen Sandstrände und in die Hotelanlagen zurück holen, von denen derzeit über die Hälfte geschlossen sind.
Der Moment, wenn alle Handys piepen
Gerade hat in einem Teehaus im Herzen der Medina der Workshop zu Gewalt im Alltag und Extremismus im öffentlichen Raum begonnen, da stiftet das Piepsen von Handy-Newsfeeds Unruhe: Mitten ins "Café-Culturel"-Gesprächsformat, mit dem Ruth Daniels von der britischen NGO "In Place of War" (IPOW) zum Erfahrungsaustausch über die Entstehung von Extremismus anregen und Handlungsalternativen vermitteln will, platzt die Nachricht über das Attentat von Nizza. Krasser könnten sie kaum aufeinander prallen: die Wissbegier von Fares, Bouzemi, Samir, Nour und ihren Freunden, die dem Terrorismus mit kreativen Mitteln die Stirn bieten wollen – und die bedrückende Schlagzeile "Attentat in Nizza, 80 Tote, 300 Verletzte, Täter aus Tunesien nahe Sousse". Sie stellt alles Erreichte und noch Gewünschte in Frage.
Noch hat die französische Regierung nicht offiziell bestätigt, dass der Personalausweis im Täter-LKW tatsächlich jenem Fahrer gehört, der in der Nacht zuvor 84 Erwachsene und Kinder totgefahren und über 300 Menschen verwundet hat. Doch durch die sozialen Medien schießt bereits mit Lichtgeschwindigkeit eine Kopie des französischen Ausweises von Mohamed Bouhlel aus M’saken bei Sousse, wie in der atemlosen digitalen Medienmaschine üblich, ohne Quellenangabe oder Einordnung.
Sofort steht dessen Familie weltöffentlich am Pranger, vor ihrem Haus in der Kleinstadt M’saken drängen sich Nachbarn, Kamerateams und Zeitungsreporter. Die Angehörigen stehen unter Schock und verweigern jede Aussage, fassungslose Nachbarn suchen nach Erklärungen. Ein älterer Mann erzählt, dass Mohamed jähzornig war, schon als Kind seine Spielkameraden und als Jugendlicher seine Eltern geschlagen habe: "Wir sind hier keine Terroristen. Mohammed war krank, er war verrückt. Ein Islamist war er sicher nicht. Er ging weder in die Moschee, noch hat er im Ramadan gefastet." Auch in M’saken ist die Angst vor kollektiver Verurteilung aufgrund der monströsen Tat eines Landsmannes sofort spürbar. "Viele Tunesier leben in Frankreich. Auch ich arbeite in Nizza. Schicken die Franzosen uns jetzt zurück nach Hause?", fragt der alte Mann mich und meine tunesische Kollegin Mabrouka Khedir verunsichert. Aber die Nachbarn leiden auch mit dem Bruder Jaber, der verstört stundenlang vor dem Haus steht und auf einen Beweis für die Schuld seines Bruders wartet.
Trotz alledem
Zurück in Sousse: Im Stadtzentrum ist es an diesem Samstag Abend ruhiger als sonst während der tunesischen Feriensaison. Die Identität des Attentäters wurde inzwischen offiziell bestätigt. In den Cafés starren die Tunesier auf die Fernseh-Bildschirme mit den neuesten Nachrichten aus Nizza. Hatte Mohammed Bouhlel Helfer? Handelte er im Auftrag einer extremistischen Gruppe? Doch das "weloveSousse"-Team hat nicht klein beigegeben, ihr Festival geht weiter, jetzt erst recht. Vor der Bühne am Stadtstrand Boujafahr jubeln junge Leute, auf der Kaimauer sitzen Familien dicht an dicht. Der Trotz-alledem-Abend fühlt sich an wie ein langer, lang verdienter Glücksmoment für die Bewohner von Sousse: Kleine Jungs rennen um die Wette, Teenager schubsen einander kreischend vom vorgelagerten Felsen ins tiefblaue Wasser. Langsam versinkt die Sonne ins Meer. Kleine Mädchen backen, behütet von ihren Großmüttern, bis tief in die Nacht Sandkuchen.
Der Strand ist voller Menschen. Vor der Bühne tanzt eine dichte Menge junger Leute im Takt der Musik. Nur eine junge Frau ist wütend, voller Zorn auf den Attentäter: "Heute schäme ich mich, Tunesierin zu sein! Ich will der ganzen Welt zeigen können, dass wir kein Volk von Terroristen und Attentätern sind. Wir sind gastfreundlich, offen. Wer glaubt uns das jetzt noch?" Solidarisch wider das Stigma.
Auf der anderen Seite
Zwei Tage später wendet sich die Situation: Die Eilmeldungen kommen jetzt aus Deutschland, die Benachrichtigungen schlagen bei mir ein, noch immer in Tunesien. "Würzburg: Terror attack in a German train. Refugee killed people in a train with an axe." Fern von Zuhause, digital zugeschüttet mit noch unbelegten Newsfetzen aus Deutschland, fällt es selbst mir als Journalistin schwer, einen klaren Kopf zu behalten, auf Fakten zu warten. Für einen kurzen Augenblick fühlt sich Sousse für mich plötzlich sicherer an als Deutschland. Was für ein Unsinn.
Ein schuldbewusster Blick meiner Kollegin streift mich. "Warum schaust Du so?", frage ich. "Bestimmt wieder ein Tunesier!" sagt sie. "Du spinnst!" sage ich – "und wenn, was hat das mit uns zu tun?" Jetzt erst habe ich wirklich begriffen, wie schwer kollektive Stigmatisierung Menschen bedrücken kann; dass Terrorismus kein lokales Problem ist, sondern uns rund um den Globus gleichermaßen betrifft – und gemeinsam angegangen werden kann.
Da gab es kurzfristig eine allumfassende konfuse Furcht in meinem Kopf, die keiner besser verstehen konnte als meine tunesische Kollegin. Drei große Attentate haben die Tunesier in nur einem Jahr erlebt, zu allen wurde sie als Berichterstatterin geschickt: Im Bardo-Museum kamen 18 Touristen ums Leben, am Strand von Sousse 36 Besucher, auf der Hauptflaniermeile wurden 12 Soldaten der Präsidentengarde getötet. Wenn ich von einer lernen kann, sich von Terror nicht lähmen zu lassen, dann von Mabrouka Khedir.
Unsere Angst, unsere Chance
Als eine Stunde später die Nachricht reinkommt, dass der Täter von Würzburg ein afghanischer Flüchtling war, flachst unser tunesischer Kameramann: "Aber die Axt kam bestimmt aus Tunesien." Da können wir alle drei wieder lachen. Die verwirrenden Meldungen aus Deutschland werden in den nächsten Tagen nicht abreißen: Attentat in Münchner Einkaufszentrum; Mann tötet Frau mit Machete an Reutlinger Bushaltestelle; Sprengstoffanschlag in Ansbach. Konfus machen sie mich nicht mehr.
Von ihrem Mentor Anis Boufrikha und von den "In Place of War"-Trainerinnen hat die Jugend von Sousse gelernt, mutig zu werden und trotz extremistischer Bedrohung handlungsfähig zu bleiben. Mir selbst wurde auf drastische, aber nachhaltige Weise in diesen tunesischen Tagen klar, was Navid Kermani kurz nach meiner Rückkehr nach Deutschland so beschrieb: "Erst wenn wir begreifen, dass wir gemeinsam angegriffen werden, gleich ob wir in Mittelfranken oder Afghanistan leben, können wir uns auch gemeinsam wehren." Die Jugend von Sousse hat gelernt, wie das geht. Fragen wir sie.