Wolfgang Georgsdorf komponiert Sinosmien, die er in Anlehnung an Sinfonien in der Musik benannt hat. Mit geschlossenen Augen sitzt das Publikum in der St. Johannes Evangelist Kirche in Berlin-Mitte in einem Zelt aus weißer Fallschirmseide. Nur ein wenig Tageslicht fällt durch die Dachfenster der evangelischen Kirche und durch das Zeltdach, so dass es ein wenig schummrig ist. 65 Rohrenden lugen aus einer weißen durchlöcherten Metallwand in das Zeltinnere. Hinter dem Metall winden sich die Abfluss-großen Rohre wie Medusas Haare.
Das Flugzeug hebt ab; So hört es sich ein wenig an, wenn das Gebläse des Smeller 2.0 anläuft. Der Smeller ist die Maschine, die Künstler Georgsdorf geschaffen hat, um seine Sinosmien überhaupt vor Publikum aufführen zu können. Ein Assistent steuert die Geruchseinführung ins Zelt über einen Computer. Plopp macht es. Und rauscht weiter. Der Geruch von Lavendel schwebt durch den Raum. Plopp macht es wieder, im zehn-Sekunden-Takt, es riecht nach Lack und Leder, nach Fisch und Minze, nach Zitrone und Kot.
Die Gerüche kommen, die Zuschauer verziehen ihr Gesicht in Freude oder Ekel. Die Gerüche gehen, die Gesichter entspannen. 64 Gerüche hat Wolfgang Georgsdorf in den Quellkammern der Rohre deponiert. Gemeinsam mit dem Parfumeur Gesa Schön hat er sie ausgewählt und zusammengestellt. Das 65. Rohr, das etwas größer ist als die anderen, wird Hauchmaul genannt. Es ragt aus der Mitte der 64 Rohre heraus und treibt die Düfte mit einer Geschwindigkeit von 30 Zentimetern pro Sekunde durch den Raum.
Am Ende des Zeltes befindet sich eine Nische in der Zeltwand, der Windkanal. Dorthin entweicht der eine Geruch, wenn das Hauchmaul den nächsten in die Nasen des Publikums pustet. 54 Minuten dauert die Sinosmie "Autocomplete", eine Duftkomposition, die bis Mitte September 2016 jeweils donnerstags bis samstags in der St. Johannes Evangelist Kirche zu riechen ist. Sie ist Wolfgang Georgsdorfs Liebling. Sie steht für sein Ziel; eine neue Kunstform, die er der Nachwelt hinterlassen will. Wie ein Bild oder eine Melodie sollen Sinosmien eines Tages als Kunstwerke für sich ganz alleine stehen können. Bis dahin erleichtert Georgsdorf es seinem Publikum noch ein wenig: Während des Geruchsfestivals in der St. Johannes Evangelist Kirche können die Zuschauer Filme, Literatur und Geräusche erleben, die mit Gerüchen angereichert, eine weitere Dimension bekommen.
"Ich bin Teil des Körpers namens Gesellschaft, ich bin Teil dieses gespaltenen Einen, dass sich über das Leben unterhält. Deswegen möchte ich dies hier teilen und weiterreichen. Es soll über den Horizont meines körperlichen Lebens, über meinen Tod hinausreichen. Ansich, als Kunst, als künstlerische Praxis, als ein Weg sich zu verständigen, als ein Weg der Produktion von Kunst und Drama", sagt Wolfgang Georgsdorf.
Seit 25 Jahren trage er dieses große Projekt vor sich her. Den ersten kleinen Smeller hat er 1996 gebaut. Erst 2012 stand Smeller 2.0 in Linz in Österreich in einem Museum und nun steht er in Berlin. Neben der aufwendigen Technik sei es auch die zaghaft anlaufende öffentliche Förderung und Wahrnehmung seines Projekts, die seine Verbreitung erschwere, sagt Geogsdorf. Die Gesellschaft übe sich seit Jahrhunderten in Osmophobie, einer Feindschaft gegenüber Gerüchen, da sie Intimes über den Menschen verrieten: "Ein Parfum ist eine olfaktorische Burka, eine geruchliche Verschleierung einer in Wahrheit geruchlichen Nacktheit. Die Nacktheit verrät etwas über meinen Stoffwechsel, meine hormonelle Situation, über Angst oder Freude, über Bereitschaft, über meinen Eros, meine Hygiene." Die Menschen betrachteten Gerüche deshalb misstrauisch und mit Unsicherheit.
Welcher Geruch dabei was verschleiere, sei Kulturabhängig, so Parfumeur Gesa Schön. Rosenduft diene beispielsweise dazu, den Geruch von Geburt oder Tod zu überdecken. "Warum akzeptieren wir diese ganzen stereotypen Gerüche die die Geruchsburka ausmachen?", fragt Wolfgang Georgsdorf. "Warum akzeptieren wir, dass Jeans nach Vanille riechen und jede Hotel-Lobby eines Swiss-Hotels nach einem Gemisch aus Kiefernadeln und Gras?" Die kulturelle Osmophobie hat laut dem deutschen Geruchsforscher Hans Hatt eine Jahrtausendelange Verkümmerung des Geruchssinns zur Folge. Die visuelle und auditive Wahrnehmung hätten den Geruchssinn in der Evolution des Menschen überholt.
Im Gegensatz zu den anderen Sinnen nimmt der Geruchssinn keinen Umweg und steuert direkt das limbische System des Gehirns an. Dort wirken Gerüche unmittelbar auf Emotionen, Erinnerungen, Instinkte und Triebe. Diese Welt will Georgsdorf öffnen. Er stellt sich Momente vor, die zur Quelle von Inspirationen werden. "Dafür braucht es eine gelungene Zeitbasierte, künstlerisch gestaltete Darbietung von Geruchssequenzen, die wie Buchstaben sind, die Worte bilden, woraus sich Sätze, Absätze und ganze Szenen bilden."
Das Programm in St. Johannes Evangelist sieht Filme, Musik, Geräuschkunst und Lesungen vor, die mit dem Smeller vermählt werden. "Aber nicht nur linear, sondern auch kontrapunktisch und widersprüchlich", sagt Wolfgang Georgsdorf. Denn universelle Gerüche könne es kaum geben, seien sie doch abhängig von eigenen Erfahrungen.
Mitte September muss Georgsdorf seinen Smeller wieder abbauen. In die St. Evangelist Johannes Kirche zieht die nächste Kunstausstellung ein. Zum Abschluss wird es voraussichtlich noch einen Geruchsgottesdienst der freikirchlichen Gemeinschaft evangelische Kulturwerkstatt Berlin geben, die regelmäßig ihre Gottesdienste in St. Johannes Evangelist feiert. Und dann gibt es möglicherweise noch ein Wiedersehen: Das Kultur Büro Elisabeth, das verschiedene Kultur-Kirchen in Berlin verwaltet und bespielt, hat angefragt, ob Georgsdorf den Smeller 2.0 auf dem Kirchentag 2017 in Berlin präsentieren möchte.