Medienethikerin: "Das Internet trivialisiert ernst gemeinte Inhalte"
Nizza, München, zuletzt Saint-Etienne-du-Rouvray bei Rouen - nach jeder Gewalttat oder jedem Terroranschlag trauern die Menschen auch im Internet. Ein Hashtag, ein Klick - und schon hat man seine Solidarität mit den Opfern und ihren Angehörigen ausgedrückt.
27.07.2016
epd
epd-Gespräch: Elisa Makowski

Tübingen (epd). Was früher in Form einer persönlichen Trauerbekundung ein Signal an Angehörigen war, ist heute eher eine Aussage über einen selbst, sagt die Medienethikerin Jessica Heesen von der Universität Tübingen dem epd. Heesen untersucht die öffentliche Kommunikation in Sozialen Netzwerken auf Werte und Normen.

epd: Oft sind die Opfer noch nicht einmal gezählt und schon gibt es Hashtags nach einem Terroranschlag. Was wollen die Menschen damit ausdrücken?

Heesen: Aus der Tradition heraus kennt man die Beileidsbekundung für trauernde Angehörigen. Wenn jemand zu einer Beerdigung geht, dann ist das die stärkste Form der Teilhabe. Hingegen macht es natürlich einen großen Unterschied, wenn man einfach nur einmal klickt oder eine kurze Zeile schreibt. In diesem Fall geht es eher um eine öffentliche Solidaritätsbekundung und damit auch eher eine Aussage über einen selbst. Ich zeige damit anderen meine Präferenzen und Einstellung. Meine Solidaritäts- und Trauerbekundungen in Sozialen Netzwerken werden so zum Teil meiner öffentlichen Identität.

Unüberlegt und willkürlich?

epd: Es ist natürlich auch sehr einfach, schnell einen Tweet abzusetzen - fast entsteht der Eindruck eines unüberlegten Automatismus.

Heesen: Nur weil man seine Solidaritätsbekundung gerade eben mal mit einem Klick ausdrücken kann, heißt das nicht, dass es schlecht ist. Jemand kann sehr betroffen sein und das bei Twitter kundtun und ein anderer reagiert fast automatisch auf eine Gewalttat mit einem Hashtag ohne emotional involviert zu sein. Es ist schwierig, die individuelle Motivation zu bewerten. Aus Perspektive einer Ethik, in der die Bewertung der Handlungsfolgen im Vordergrund steht, zählt, was Leute tun, nicht warum sie es tun. Auch mit einem schnellen Klick können Menschen Gemeinschaft stiften.

epd: Auch das ist das Internet: Neben Tweets zu #prayforrouen stehen Werbebanner und Katzenvideos.

Heesen: Der Kontext ist generell ein Problem der digitalen Medien - alle Inhalte werden trivialisiert durch die Co-Präsenz von Werbung und unterhaltenden Nachrichten. Das wird dann schnell pietätlos und sehr beliebig. Allein durch die Form der Repräsentation wird man in Sozialen Netzwerken nicht gerade aufgefordert, sich intellektuell und emotional mit einer Sache wirklich auseinanderzusetzen.