"Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich." (Joh. 19, 26f)."
Liebe Schwestern und Brüder,
Ich wähle diese Anrede, gleich welcher christlichen Konfession Sie angehören, ob Sie Jude oder Muslima sind, ob Sie Zweiflerin oder überzeugter Atheist sind. Wir sind eine Stadtgesellschaft, in der alle zusammengehören. Mehr noch: Die vergangenen Tage haben gezeigt, dass wir eine Stadtfamilie sind. Eine, die ein Herz füreinander hat.
Susanne Breit-Keßler war viele Jahre lang feste Autorin für chrismon, vor allem mit ihren Kolumnen "Im Vertrauen" und "Mahlzeit". Bis 2019 war sie Regionalbischöfin des evangelischen Kirchenkreises München-Oberbayern. Ihre journalistische Ausbildung absolvierte sie bei der Süddeutschen Zeitung und beim Bayerischen Rundfunk. Mehrere Jahre sprach sie "Das Wort zum Sonntag" in der ARD.
Wenn beklagt wird, dass unter den Toten Kosovo-Albaner, Türken, ein Grieche, Roma sind, dann kann das nur ein Ausdruck des Respektes vor der Individualität der Opfer sein, vor ihrer persönlichen Geschichte. Wir nehmen tiefen Anteil daran, wer sie sind und für uns in der Erinnerung auch immer bleiben werden.
Wir denken an die, die schwer verletzt sind und um ihr Leben kämpfen. Wer sie sind, wo sie herkommen, liegt uns am Herzen. Denn alle, die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die der Amokläufer an Leib und Seele verletzt hat, sie sind ein Teil von uns. Sie gehören wie wir selbst in diese Stadtfamilie unverzichtbar hinein.
Jesus, der Gekreuzigte, lenkt im Angesicht seines eigenen Todes den Blick auf die Frage: Wie geht es weiter für die Überlebenden? Wer kümmert sich um wen? Was hält und trägt, wenn alles zusammenbricht? Jesus denkt ganz menschlich konkret - und er diskutiert nicht. Das ist dein Sohn. Das ist deine Mutter.
Denn Abschottung im Kopf und Distanz im Herzen helfen nicht, diese Tage, diese heillose Zeit zu bestehen. Im Gegenteil: Wer das Leid der Familien in München, auch in Würzburg, Ansbach und Reutlingen, wer das Elend in Kabul von sich fern hält, der wird apathisch, der resigniert. In dem Maß, in dem Leid verdrängt wird, schwindet Leidenschaft für das Leben.
Wir sollen hinsehen
Dein Sohn, deine Mutter, deine Familie. Das ist Jesu Antwort auf unsere Klage. Wir sollen hinsehen – dort hinschauen, wo Gott tatsächlich ist. Er zeigt sein Gesicht im gekreuzigten Christus. Sein Gesicht spiegelt sich in den Augen der Eltern, die verzweifelt sind über den Tod ihres Kindes. In den Augen der Ehepartner, Freunde und Verwandten derer, die umgebracht wurden.
Es spiegelt sich in den Augen der Jugendlichen, die das Grauen miterlebt haben, und in den Augen der Menschen, die voller Schmerz täglich an die Orte der Tat gehen, um derer zu gedenken, die ermordet wurden. In den Augenblicken tiefster innerer Bewegung wissen wir, dass wir Gott selbst ins Gesicht schauen, wenn wir Menschen begegnen, die uns brauchen.
Deswegen hält unsere Stadtfamilie, das ganze Land zusammen, wir stehen zueinander wie eine Familie, in der jeder und jede einzelne wertvoll ist. Dein Sohn, deine Tochter, deine Eltern. Uns wird tragen und halten, wenn wir uns über die tatsächlichen Familiengrenzen hinaus als Mütter und Väter, als Brüder und Schwestern verstehen.
Was braucht der Bruder?
Wer wirklich und wahrhaftig bei Trost sein will, der braucht Sympathie, Mitleiden, und Empathie, Einfühlungsvermögen. Nur so, bewegt vom Schicksal anderer, kann man trösten und getröstet werden. Wir schauen genau hin, auf das, was geschehen ist. Was braucht der Bruder? Braucht er mein Mitgefühl, ein Gebet, meine Tränen?
Braucht die Schwester mein Schweigen, mein stilles Da-Sein, das Halten der Hände? Und wann ist es womöglich wieder an der Zeit, zu lächeln, einander mit Energie fort- und mitzureißen aus dem dunklen Loch... Leiden schreit erst einmal. Nach Aufmerksamkeit, nach Konzentration. Dein Sohn. Deine Mutter. Schau hin, spüre, was du für sie, für ihn tun kannst.
Hinschauen. Es braucht beständig auch unsere Bereitschaft, zerstörerische Tendenzen in uns und anderen beim Namen zu nennen. Das sage ich im Blick auf den Täter. Denn was sich namenlos in einem ausbreitet, wird oft zum Flächenbrand. Was soll es heißen, wenn von einem Amokläufer gesagt wird, er sei ganz und gar „unauffällig“ gewesen, eigentlich nichts Besonderes…
Eine Kultur der Achtsamkeit
Mit anderen Worten: Man hat ihn nicht wirklich wahrgenommen. Wir brauchen dringend eine Kultur der Achtsamkeit. Jugendliche untereinander, Eltern gegenseitig und ihren Kindern gegenüber, Lehrer, Sozialarbeiter, Ärzte, Psychologen, Polizisten im sorgsamen Blick auf die, die ihnen anvertraut sind und mit denen sie zu tun haben. Wie in einer Familie.
Jeder ist im guten Sinne „auffällig“ und etwas Besonderes, weil Gott ihn zu seinem Ebenbild geschaffen hat. Wir müssen jedem Kind, jedem Jugendlichen deutlich machen, dass Leben insgesamt, das eigene und das Leben anderer, auch das Leben derer, die man nicht mag, unendlich wertvoll ist. In einer Stadtfamilie ist jeder einzigartig.
Aber es ist wie in einer kleinen Familie notwendig, darauf zu schauen, dass die Einzigartigkeit eines Menschen in seiner Normalität besteht - und nicht in Auftritten sensationeller Art. Deswegen meine Bitte an die Medien: Stellt Täter nicht so in den Mittelpunkt, dass sie sich ermutigt fühlen, einmalig und letztmalig sich furchtbar in Szene zu setzen.
Es muss berichtet werden, das ist Teil unserer demokratischen Kultur. Aber nicht der Täter, die Opfer stehen im Vordergrund. Dein Sohn, deine Mutter, deine Geschwister - das bedeutet nicht, sie wegzudrücken, gar sie zu vernichten. Es meint um Himmels willen, liebevoll und fürsorglich aufeinander zu schauen, sich gegenseitig Raum zum Leben lassen.
Schauen Sie, liebe Schwestern und Brüder bitte auch hin, was Sie für sich tun können. Wenn Sie im OEZ arbeiten, wenn Sie von dort geflohen sind oder direkt in der Nähe leben, sind Sie zutiefst erschüttert und mitgenommen von dem schrecklichen Verbrechen, das dort geschehen ist. Die Angst sitzt Ihnen in den Knochen, Unsicherheit plagt Sie.
Was Sie erleben, kann nicht lautlos bleiben. Wer leidet, wer mitleidet, tut das in allen Dimensionen seines Lebens: Körperlich, seelisch und sozial. Magenschmerzen, Kopfweh, Übelkeit, Zittern, Panikattacken, Schlaflosigkeit, Gereiztheit und Ungeduld im Umgang miteinander, Angst vor Einsamkeit, Sehnsucht nach Wärme und Umarmung - alles gehört dazu.
In einer Familie, in der Stadtfamilie ist dafür Raum und Zeit. Wir brauchen das. Deswegen die Blumen und Kerzen am Ort des Verbrechens. Deswegen ein Gottesdienst mit Gebeten und Liedern, mit gemeinsamen Gedanken zu dem, was geschehen ist. Gott, der uns zu einer mitfühlenden Familie machen will, überall auf der Welt, er schenke uns diesen Zusammenhalt. Amen.