Wynberg ist einer der südlichen Vororte von Kapstadt – weit weg von Strand und hippen Bars liegen graue Straßen neben Bahntrassen. Der Taxifahrer zögert, die Tür zu öffnen. Wen um Himmels Willen man hier treffen wolle? Mädchen mit Schuluniform und Hidjab auf dem Kopf huschen in Grüppchen nach Hause, vorbei an einer kleinen Moschee – und bettelnden Junkies. Und nicht weit davon, in einer Art Gewerbehof, hat Muhsin Hendricks sein Büro.
Über einer grauen Adidas-Jogginghose trägt der Imam eine weiße Tunika mit Stickereien. Wie um auf den ersten Blick klarzumachen, dass es kein Paradox ist, die eigene Natur in den Einklang mit gesellschaftlichen Konventionen zu bringen. Doch die Kombi wirkt auch in ästhetischer Hinsicht keineswegs zufällig. Immerhin war Hendricks in einem seiner früheren Leben Designer. Pompöse Hochzeits- und Abendkleider hat er damals entworfen. Das Nähen hat er sich als kleiner Junge selbst beigebracht.
Dazwischen ist viel passiert
Mit einem Hauch von Stimme bittet er in sein Büro: Eine Höhle aus Teppichen, Kissen und Polstern, nur wenig Tageslicht dämmert durch die Jalousien. Barfuß, das Hemd spannt ein wenig über dem Bauch, ein feiner Bart gibt seinem Gesicht Kontur. Dazu mandelförmige Augen, in denen es immer ein wenig zu glitzern scheint.
Dort setzt er sich sehr aufrecht hinter seinen Schreibtisch und man kann sich gut vorstellen, wie er mit diesem Auftritt zwischen Standesbeamter und transzendentem Physiotherapeuten allen die Scham nimmt – Glaubensbrüdern vor dem Coming-Out, besorgten Müttern, verletzten Ehefrauen, verzweifelten Vätern. Dazu kommt: Er hat das ja alles selbst mal durchgemacht.
Hendricks stammt aus einer sehr religiösen Familie. Seine Mutter ist Koranlehrerin und bereits der Großvater Imam – und bei einer seiner Predigten hört er auch, "dass es diese Menschen gibt, die in die Hölle kommen." Schon sehr früh hat er die Ahnung, dass er nach Ansicht des Großvaters einer dieser Menschen sein könnte.
"Ich wollte herausfinden, wie der Islam zu Homosexualität steht"
Mit zwei Botschaften wächst er auf, die nicht zusammenpassen wollen, ihn nicht loslassen und verwirren – auf der einen Seite: "Gott ist extrem mitfühlend und hat für jeden einen Platz." Auf der anderen Seite: "Wenn du schwul bist, kommst du in die Hölle." Hendricks wählt einen ungewöhnlichen Weg, sich aus der Identitätskrise zu befreien: Er taucht tief hinein in diesen Glauben, der ihn scheinbar nicht duldet – geht nach Pakistan, um Theologie zu studieren. Um Imam zu werden, denkt die Familie. Aber sein Antrieb ist ein anderer: "Ich wollte endlich selbst herausfinden, wie der Islam zu Homosexualität steht!"
Heute glaubt er, dass er im Innersten schon damals überzeugt war: "Das kann nicht der Gott sein, den ich anbeten will: ein Gott, der mich für etwas bestraft, das ich mir nicht ausgesucht habe." Leicht macht es ihm dieser Gott allerdings nicht, eine befriedigende Antwort zu finden – ausgerechnet auf einer konservativen Salafisten-Schule ist Hendricks gelandet. Bei Diskussionen hinterfragt er vorsichtig Geschlechterrollen, und seine Mitschüler greifen ihn dafür an: "So spricht ein Moslem nicht!"
Bald sagt er sich selbst: "Du lernst hier die Basics, aber dann musst du deine eigene Lehre daraus ziehen." Trotzdem fühlt er sich ständig schuldig: Was, wenn die Gemeinschaft doch recht hat? Wenn es stimmt, dass man den Glauben erst mit der Ehe wirklich vollzieht und versteht? Mit einer heterosexuellen Ehe natürlich.
Der 23-Jährige will es nicht unversucht lassen. Ein nettes Mädchen war schon in Kapstadt in ihn verguckt, die Hochzeit ist schnell organisiert. Eine Woche vorher packt ihn sein Gewissen: Er gesteht seiner Verlobten, dass er schwul ist. Wieso sie trotzdem heiraten? "Sie wollte mir helfen, darüber hinwegzukommen – und natürlich hätte es sonst ein großes Drama gegeben." Naiv sei er gewesen, schiebt er nach. Es dauert keine drei Monate, bis er sich in seinen besten Freund verliebt. Als dieser Pakistan verlässt, kann er seine Niedergeschlagenheit nicht verbergen und seine Frau fragt: "Liebst du ihn?"
Sechs Jahre spielen sie heile Familie, immerhin gibt es inzwischen auch drei Kinder. Aber eines Nachts, als sie bereits wieder in Kapstadt leben, Hendricks des schmalen Gehalts wegen gleich an drei Moscheen als Co-Imam und Lehrer angestellt ist, hält er es nicht mehr aus, sagt zu ihr – und dabei wohl auch zu sich selbst: "Du hast es verdient mit einem Mann zusammen zu sein, der deine Bedürfnisse erfüllen kann."
"Das musst du jetzt so akzeptieren"
Ebenso schnell wie sie geheiratet haben, sind sie geschieden. "Das ist sehr simpel im Islam, es hängt alles am Mann." Er kichert verlegen. Mit Allah allerdings war Hendricks immer noch nicht im Reinen. Drei Monate zieht er sich auf die Pferde-Ranch eines Freunds zurück, fastet und wartet auf ein Zeichen. Die Erlösung kommt schließlich von außen. Seine Mutter, die Koranlehrerin, fragt, ob an den Gerüchten etwas dran sei. Er nickt nur. Endlich. Vor ihr hatte er es nicht aussprechen können.
"Mir war es egal, was mit den anderen Beziehungen passiert", aber als jüngster Sohn unter neun Geschwistern fühlt er sich der Mutter immer am nächsten. Sein Vater lebt damals bereits nicht mehr. "Ich glaube, er beschloss zu gehen, bevor das Drama beginnt." Wieder das stimmlose Lachen. Die Mutter allerdings bricht erstmal zusammen. Als sie ihn am nächsten Tag – immer noch in der Gebetskleidung der Nacht – bittet, Hilfe zu suchen, antwortet er: "Nein, das musst du jetzt so akzeptieren!"
"Alle drei Weltreligionen nutzen dieselben Geschichten, um Homosexualität zu verdammen"
Als Oberhaupt einer Gelehrtenfamilie hat seine Mutter einen besonderen Stand in ihrer Gemeinde. "Ihr Wort war Gesetz", sagt Hendrick. Am Tag seines öffentlichen Coming Outs in einer Lokalzeitung sind alle Augen bei ihr. Ein paar Bekannte brechen den Kontakt ab, aber die meisten scheinen die Nachricht zu tolerieren. Dafür legt man ihm in einer seiner Moscheen nahe, zu kündigen. Seine Karriere als Imam scheint gescheitert, und so folgt er dem Angebot seines damaligen Freunds, mit ihm in Johannesburg zu leben.
Aber selbst während er dort – "ziemlich erfolgreich sogar" – seine kleine Abendmoden-Boutique führt, sucht er weiter nach einem theologischen Fundament: In der Bibel, beim jüdischen Philosophen Flavius Josephus; ja sogar archäologische Funde zieht er zu Rate. "Alle drei Weltreligionen nutzen dieselben Geschichten, um Homosexualität zu verdammen", sagt Hendricks. Aber nichts ließe darauf schließen, dass Gott Sodom und Gomorra zerstörte, weil die Bewohner gleichgeschlechtlichen Sex hatten. Bei den Sünden sei es um den Missbrauch von Macht gegangen, um die Verdinglichung von Frauen. "Das hat nichts mit mir zu tun!"
"Du kannst kein guter Muslim sein, wenn du zu dir selbst nicht ehrlich bist"
Den Wendepunkt bringt wieder seine Mutter. Sie besucht das Paar, und wohnt zehn Tage in Johannesburg. Zum Abschied sagt sie: "Weißt du was, so anders seid ihr gar nicht, ihr zankt wie Ehemann und Ehefrau!" Wieder kichert er leise: "Das war das Zeichen, dass sie beginnt zu akzeptieren. Da habe ich mich nicht mehr darum gekümmert, was der Rest der Welt denkt!" Hendricks zieht zurück nach Kapstadt, gründet eine eigene Gemeinde. Ist es denn ein liberalerer Islam, den er predigt? Er wiegt den Kopf: "Ich würde sagen: mitfühlender!"
Als er begann mit "The Inner Circle" – benannt nach Mohammeds erstem Kreis von Anhängern, der sich immer mehr ausweitete – sei es vor allem um die Unterstützung der Betroffenen gegangen. "Viel Heulerei", fasst er zusammen. Inzwischen bildet er jedes Jahr ein Dutzend Muslime aus aller Welt als Trainer aus. 2013 hat er die Doku "Fitrah" gedreht, was so viel wie "Natur" bedeutet. Nach seiner "fitrah" zu leben, das sei eines der Gebote im Islam. "Du kannst kein guter Muslim sein, wenn du zu dir selbst nicht ehrlich bist."
Im Privaten eher konservativ
Kapstadt scheint das perfekte Basislager. Nicht nur weil es weltoffen und schwulenfreundlich ist, auch der Islam scheint bei den Kap-Malaien lockerer ausgelegt zu werden als anderswo: "Unsere Vorfahren kamen aus Indonesien – dort wird hauptsächlich der tolerantere Sufi-Islam gelehrt." In Johannesburg hat Hendricks allerdings andere Erfahrungen gemacht: Die Moslems dort hätten aus Indien und Pakistan eine sehr strenge Idee von Religion mitgebracht, die sich heute noch in ihrer Kultur spiegelt.
Ob er niemals Drohungen bekommen habe? "Sollte ich?", fragt er und kichert wieder leise. "Ich denke es liegt daran, dass ich aus meiner persönlichen Erfahrung spreche. Ich will niemanden bekehren." Inzwischen ist er sogar noch einmal Vater geworden. Der biologische Vater ist diesmal sein Lebensgefährte. Mit der Leihmutter wie mit den Kindern aus seiner ersten Ehe pflegt das Paar eine enge Beziehung. Bis auf seine Patchwork-Familie gibt sich der Imam im Privaten eher konservativ. Kapstadts bunte Schwulenszene interessiert ihn nicht: "Ich bin niemand, der mit rosa Klamotten rumlaufen und ein Sixpack herzeigen muss, um zu beweisen, dass ich schwul bin."