Seit knapp zwei Stunden beschäftigt sich Nina (Name geändert) in ihrem Zimmer. "Komm doch mal eben her und ,Hallo!", ruft die Mama ins Kinderzimmer hinein. Nina gibt dem Besuch die Hand und macht sogar einen kleinen Knicks. Sie macht einen aufgeweckten interessierten Eindruck. Die Achtjährige begrüßt den Besuch und hört auf der Couchlehne sitzend zu, was sich die Erwachsenen erzählen.
"Meine Tochter ist gut erzogen", sagt Jasmin Schreyer (Name geändert). Mama und Tochter grinsen sich an. Nicht zum Grinsen ist allerdings ihre finanzielle Situation: Jasmin und Nina Schreyer und der Dritte im Bunde, der 16-jährige Sohn Nils, gelten als arm. Mit rund 850 Euro müssen sie monatlich auskommen – 470 Euro Hartz IV-Zahlung und 380 Euro Kindergeld für Nina und Nils. "Wenn wir bis zum 20. des Monats damit hinkommen, haben wir Glück gehabt", sagt Jasmin Schreyer. Ohne die Hilfe ihrer Familie gehe es nicht.
Von Armut oder Armutsgefährdung spricht man, wenn wie im Fall von Jasmin Schreyer ein alleinerziehender Erwachsener mit zwei Kindern weniger als 1.467 Euro monatlich zur Verfügung hat. In Bremen sind 23,1 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet. Davon sind 49,7 Prozent allein Erziehende. Es folgen Familien mit zwei Erwachsenen und drei oder mehr Kindern mit 45,3 Prozent.
Die Stadt Bremen liegt mit ihrer Armutsquote im oberen Drittel des Bundesdurchschnitts, hinter Dortmund, Leipzig und Hannover. Bei den Kindern unter 15 Jahren führt die Hansestadt die Statistik an. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) schreibt in seiner März-Ausgabe von "Arbeitsmark aktuell", dass sich im September 2015 bundesweit rund 1,661 Millionen Kinder unter 15 Jahren im Hartz IV-Bezug befänden. Der Bundesdurchschnitt liege bei 15,5 Prozent. In Bremen hingegen seien es 32,8 Prozent oder 27.206 Kinder. Knapp dahinter liegt Berlin mit 32,5 Prozent oder 148.821 Kindern unter 15 Jahren. Der DGB bezieht sich auf Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit. Die Zahlen zeigen ebenfalls, dass die sogenannte Hartz-IV-Bedürftigkeitsquote bei Minderjährigen bundesweit von 15,3 Prozent im Jahr 2013 auf 15,6 Prozent zwischen Januar und September 2015 angestiegen ist.
Die Armut der Kinder und Jugendlichen ist nicht unmittelbar ihre eigene, sondern Folge der Armut ihrer Eltern. Dass ausgerechnet Bremens Familien so arm sind, ist aus Sicht des zuständigen Sozialressorts nicht weiter verwunderlich. Sprecher Bernd Schneider verwies Anfang Juni 2016 gegenüber der Deutschen Presseagentur (DPA) auf die Sozialstruktur der Stadt: "Wir haben die höchste Quote bei den Sozialhilfeempfängern, die höchste Quote bei den Alleinerziehenden nach Berlin und eine hohe Arbeitslosenquote."
"Fertigessen oder Tiefkühlkost gibt es bei uns nicht"
Vielen Kindern sei das einerseits anzusehen, berichten beispielsweise Erzieherinnen mehrerer Kindertagesstätten der Bremischen Evangelichen Kirche. Andererseits achteten die betroffenen Eltern beziehungsweise Elternteile darauf, dass der Nachwuchs gut gekleidet in die Gruppe komme und ausreichend zu essen habe. Doch ganz verheimlichen lasse sich Armut nicht, sagen die Mitarbeitenden in den Einrichtungen. "Wir wissen bei unseren Kindern ganz genau, wann Ebbe in der Kasse ist", sagt eine Erzieherin: "Meistens haben die Mädchen und Jungen nur Weißbrot mit und greifen öfter zu unseren Tellern mit frischem Obst und Gemüse." Das gilt auch für Ganztagsschulen.
Jasmin Schreyer berichtet von allein Erziehenden, bei denen es vor allem zum Ende des Monats knapp werde: "Da ist Schmalhans Küchenmeister." Jasmin Schreyer kann dank der familiären Unterstützung frisch kochen. "Fertigessen oder Tiefkühlkost gibt es bei uns nicht", sagt Jasmin Schreyer.
In der Bildungspolitik ist Bremen jedoch nicht untätig. Schon lange kennt man den Zusammenhang zwischen Kinderarmut, dem Elternhaus und den Bildungschancen in Deutschland. Seit einigen Jahren verzeichnet Bremen eine höhere Anzahl an Abiturienten. Laut dem vor wenigen Wochen vorgelegten Bildungsbericht 2016, erwerben inzwischen rund 30 Prozent der Bremer Schüler ihre Hochschulreife. Dabei ist der Anteil in den Stadtteilen mit mehrheitlich hohem Einkommen allerdings immer noch erheblich höher. Dieser Umstand ist für Carsten Schlepper nicht neu. Er ist Vorsitzender des Kinderschutzbundes im Land Bremen und Geschäftsführer des Landesverbandes evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder.
Mittel gegen Armut: Bildung braucht mehr Geld
Bogedan schreibt auf ihrem Facebook-Profil anlässlich der Vorstellung des Bildungsberichts: "Die Kluft der ungleichen Bildungschancen konnten wir verringern, trotzdem bleibt die bestehende Ungleichheit weiter wesentliche Herausforderung der Bildungspolitik. Mit dem längeren gemeinsamen Lernen in Ganztagsschulen und der besseren Teilhabe aller Kinder an der frühkindlichen Bildung haben wir zwei wichtige Instrumente in den letzten Jahren gestärkt."
Für Schlepper ist das längst nicht genug. Zwar habe es nach den ersten Pisa-Schocks in den 2000er Jahren Anstrengungen gegeben. Gleichwohl aber "hat sich das Bildungssystem nie wirklich weiterentwickelt", ist der Vorsitzende des Bremer Kinderschutzbundes überzeugt. Schlepper fordert vor allem in Bremen eine angemessene personelle und finanzielle Ausstattung von Kitas und Schulen. Davon könnten Kinder und Familien profitieren. Schlepper schweben unter anderem Sprachförderung, spezielle Bildungsangebote für Eltern und Frühförderung in den Kitas vor. So ließen sich die Bildungs- und späteren Arbeitsmarktchancen verbessern und in der Folge die Armut wirksam bekämpfen.