Bautzen, Clausnitz, Leipzig, Dresden, Tröglitz – schier endlos erscheint die Kette der Orte der Schande. Städte in Sachsen, die sich durch Gewalt gegen Fremde und Rechtsextremismus in die Topographie der Barbarei eingereiht haben. Bei einer Debatte im Bundestag im Februar entrollt der SPD-Innenpolitiker Uli Grötsch eine Karte der Amadeu Antonio Stiftung. Rot markiert sind darin die Orte, in denen Straftaten gegen Migranten erfasst sind. Sachsen erscheint tiefrot. "Diese roten Punkte", betont der Abgeordnete, "markieren Dunkeldeutschland." Der Freistaat, hat der Bielefelder Sozialpsychologe Andreas Zick herausgefunden, habe im Vergleich mit den anderen Bundesländern "eine viermal höhere Wahrscheinlichkeit für Rechtsextremismus". Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich räumt unter dem Druck der Ereignisse ein: "Ja, es stimmt: Sachsen hat ein Problem mit Rechtsextremismus, und es ist größer, als viele wahrhaben wollten." Es sei ein "jämmerliches und abstoßendes Verhalten", wenn Flüchtlinge attackiert und Unterkünfte angezündet würden. "Der Humanismus wird durch Barbarei verdrängt", sagt Tillich. Dagegen, lautet sein Appell, müsse es den Widerstand aller geben.
In den öffentlichen Diskursen verlaufen die Argumentationsmuster der Versuche, das Phänomen ursächlich zu verstehen, zumeist in politischen Kategorien. Im Fokus: die Sozialisation der Menschen im DDR-System und dessen Überwindung durch Transformation nach 1989. Eine Zäsur, die viele Menschen im Osten gepaart mit massiven Enttäuschungen und wachsender Orientierungslosigkeit erlebt haben. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer beschäftigt sich mit Reaktionen auf die Kluft zwischen den Versprechungen nach der Wende und den individuellen Krisen durch Verluste aller Art. "Manche suchten nach einer Kraft", resümiert er, "die sich dem alten Sozialismus so gut wie der Wessi-Demokratie entgegenstellte. Sie fanden sie in dem nationalen Gedankengut der Rechtsradikalen."
"Wir sind die religionsloseste Region der Welt"
Psychologische Erklärungsansätze, die von der menschlichen Frustration als Folge von empfundener Kränkung ausgehen, finden sich exemplarisch beim Medientreffpunkt Mitteldeutschland im Mai in Leipzig. Der Psychoanalytiker Hans Joachim Maaz sagt, Pegida sei auch ein Magnet für Menschen mit persönlichen sowie Vereinigungsproblemen, die mit Enttäuschung einhergingen. Wolfgang Tiefensee, Wirtschaftsminister in der Landesregierung Thüringen, spricht sich für eine "Kontextualisierung" aus. Ausgangspunkt sei der Umbruch 1989, die damit einhergehende Entwertung von Arbeitsbiografien und die Sorge, nicht abgesichert zu sein. Ob diese Erklärungsansätze die "Verdrängung des Humanismus durch Barbarei" (Tillich) hinreichend nachvollziehbar machen und somit Handeln ermöglichen, bleibt aber im hohen Maße unbeantwortet. Wissenschaftler erklären die Gewaltdisposition des Menschen, sehr vereinfacht, mit zwei Modellen: der genetischen Veranlagung oder mit kulturell-sozialen Einflüssen. Wo Rauch ist, muss auch Feuer sein. Nur wo sind dann die Feuerstellen?
Auffällig ist in den Debatten die weitgehende Ausblendung eines Faktors, der als Teil der Ursachenkette mit auf den Radarschirm der Analyse gehört. Der automatisch aktuell wird, wenn über die Vermittlungsinstanzen kultureller und ethischer Standards - Familie, Schule, Bildung, Religion - nachgedacht wird. Zwei Drittel aller Ostdeutschen gehören nach statistischen Daten von 2010 keiner der beiden christlichen Hauptkirchen an. Bei den Westdeutschen beträgt diese Quote 18 Prozent. In Dresden ist noch jeder fünfte Einwohner konfessionsgebunden. 15 Prozent sind evangelisch, fünf Prozent katholisch. In Leipzig liegt der Anteil der Konfessionsgebundenen gar nur noch bei zehn Prozent. Nach der Wende, hat der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack herausgefunden, habe sich die Distanz der Menschen im Osten zu den christlichen Gemeinschaften sogar noch beschleunigt. Sachsen-Anhalts bekennend katholischer Ministerpräsident Reiner Haseloff findet: "Wir sind die religionsloseste Region der Welt." In Thüringen, wo rechtsradikale Kreise Front machen gegen einen Moscheebau, stellt die Landesregierung öffentlich ihr Bekenntnis zum "hohen Gut der Religionsfreiheit" heraus. Ob dies von den Menschen verstanden wird, bleibt indes fraglich. Viele Thüringer hätten eben doch Vorbehalte, heißt es bei dpa, "weil ihnen Religionen fremd sind".
Spielt dieses "fremd sein" beim Erklären der Ursachen von Extremismus und Rassismus eine Rolle, gar eine herausragende? Dresdens Superintendent Christian Behr, seit vier Jahren im Amt, vermag einer zugespitzten, gar monokausalen Sichtweise wenig abzugewinnen: "Da bin ich skeptisch." Um Pegida und ihren harten Kern, die wachsende Zahl an Neonazis, zu erklären, sagt Behr, seien vielfältige Gründe zu nennen. So die Frage der "Beheimatung" in der DDR und der "Nicht-Beheimatung" im neuen politischen System nach der Wende.
Dresden und Leipzig diskutieren
Die Auseinandersetzung mit den von Hass getriebenen, zum Teil gewaltbereiten Bevölkerungsgruppen hat nach Ansicht des Superintendenten zwar auch für den Protestantismus Relevanz. Sie überfordere allerdings zurzeit die meisten evangelischen Gemeinden in Dresden. Es sei unstreitig, dass Kirche ihren Standort im säkularen Raum finden müsse. Doch ganz konkret hätten viele Gemeinden hinreichend damit zu tun, sich zu organisieren. "Da bleiben den meisten nur wenig Zeit und Raum, ihre gesellschaftliche Rolle zu reflektieren", betont Behr.
Ein Widerspruch? Waren nicht gerade die evangelischen Gemeinden zu DDR-Zeiten Orte des Entstehens und der Bewahrung zivilgesellschaftlicher Einstellungen? Insbesondere in den 80er Jahren, nimmt Behr den Einwand auf, sei dies in der Tat anders gewesen. "Unsere Kirchen waren damals für viele kritisch engagierte Gruppen ein Stück Heimat und Geborgenheit. Darüber hinaus dann der treibende, wohl der wesentliche Faktor jener kritischen Öffentlichkeit, die sich gegen das Regime gestellt hat." Einst seien visionäres und theologisches Denken in den Gemeinden prägend gewesen.
Lässt sich aus dieser Erfahrung von gestern ein neues Selbstverständnis, auch Selbstvertrauen gewinnen? Ein Stück Energie gegen das mobilisieren, was Behr die "verbürgerlichte Kirche" nennt, die es im Osten wie im Westen Deutschlands gebe? Für den Superintendenten ist es durchaus realistisch, über die Rückbesinnung auf die einstige Rolle das Potential für etwas Neues in der Zukunft zu erschließen. Eine Bewegung etwa, die ethische Grundstandards im Sinne von Menschenrechten entschiedener zur Geltung bringt. Behr verweist auf aktuelle Bestrebungen in Dresden und Leipzig. In speziellen Gemeindeforen werde dort die gesellschaftliche Position von Kirche diskutiert. "Evangelisch in Dresden 2025" sei ein solches Forum, "Gemeinschaft und Theologie" in Leipzig ein weiteres. Auch in den nächsten Jahren solle diese Anstrengung intensiviert werden. Selbstvertrauen, sagt der Moralist La Rochefoucauld, ist die Quelle des Vertrauens zu anderen. Darauf ließe sich in Sachsens Gemeinden manches aufbauen. Vielleicht selbst in "gottlosen" Landstrichen.