Die Produktionen sind nach wie vor unterhaltsam, aber die Umsetzung ist bei weitem nicht mehr so verstaubt und altbacken wie noch bis vor ein, zwei Jahren. Die deutlichste Änderung aber hat sich bei den Inhalten vollzogen: Oft sind es nur Nuancen, die die Stoffe vom Drama trennen. Auch "Mein Sohn Helen" ist ein Film, der im Rahmen der einstigen Süßstoffphilosophie nicht möglich gewesen wäre: Tobias, ein verwitweter Vater, bringt seinen Sohn Finn, der ein schulisches Auslandsjahr in San Francisco verbringen wird, zum Flughafen. Als er ihn zwölf Monate später wieder abholt, traut er seinen Augen nicht: Aus dem Sohn ist eine Tochter geworden; Finn heißt jetzt Helen.
Autorin Sarah Schnier (zuletzt "Zwischen den Zeiten") gelingt das Kunststück, die potenziell dramatische Geschichte als Komödie zu verpacken, ohne sie zu verraten. "Mein Sohn Helen" läuft nie gefahr, zur Travestie zu werden. Eindringlich darf Helen erläutern, warum sie sich in den letzten 16 Jahren wie eine Gefangene im eigenen Körper fühlte. Andererseits spart das Drehbuch auch die tragische Seite nicht aus: Nach der Rückkehr an die alte Schule wird Helen erst mal gemobbt; die männlichen Mitschüler bereiten ihr im Umkleideraum ein traumatisches Erlebnis. Und dann wird Tobias auch noch zum Jugendamt zitiert, weil er angeblich bei der Erziehung versagt hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Mindestens so entscheidend für die Qualität des Films wie die Balance aus heiteren und nachdenklichen Szenen, zu denen auch Tobias’ Trauerarbeit zählt, sind die beiden Hauptdarsteller. Die Idee, ausgerechnet einen echten Kerl wie Heino Ferch als Vater zu besetzen, ist natürlich reizvoll, weil die Fallhöhe eine ganz andere ist als bei einem Durchschnittstypen. Tobias, der Finns Verwandlung zunächst für eine vorübergehende Phase hält, muss sehr weit über seinen Schatten springen; Ferch spielt das wunderbar. Noch eindrucksvoller ist allerdings Jannik Schümann. Der junge Schauspieler wird gerade dank seiner feinen Gesichtszüge seit "Homevideo" gern als jugendlicher Unhold besetzt ("Tatort: Gegen den Kopf", "Polizeiruf: Eine andere Welt"). Hier passt er perfekt zur Rolle, weil aus dem gut aussehenden Finn eine nicht minder attraktive Helen wird. Auch die Körpersprache stimmt, so dass die Verwandlung nie peinlich wirkt. Das gilt vor allem für die vielen Laufszenen, in denen sich Schümann gazellengleich über die Laufbahn bewegt und nicht wie ein Typ in Mädchenklamotten wirkt. Der Rest ist Kostüm und Maske; es wird kein Zufall sein, dass seine blauen Augen regelrecht strahlen, nachdem er Helen geworden ist.
Auch die weiteren jugendlichen Darsteller hat Gregor Schnitzler ("Die Wolke") ganz famos geführt, allen voran Kyra Sophia Kahre als Finns Freundin und Mitschülerin Jasmin, mit der er sein erstes sexuelles Erlebnis hat, und Zoe Moore als Louisa, ein wildes Mädchen, das ihn nach der Wandlung in ihre Clique aufnimmt. Moore, Tochter des Regisseurs Eoin Moore, hat schon in der Titelrolle des ARD-Märchens "Die kleine Meerjungfrau" (2013) bewiesen, dass ihre bemerkenswerte Leistung als Hauptdarstellerin des Jugendfilms "Max Minsky und ich" (2007) keine Eintagsfliege war.