"Ich habe die Geiselnahme relativ früh mitbekommen, weil ich gerade mit einem Feuerwehrmann in Kontakt war, der die Einsatzmeldung bekommen hat", erzählt Pfarrer Markus Eichler von der evangelischen Auferstehungskirche Viernheim. Er war dann auch als Notfallseelsorger vor Ort mit im Einsatz. "Da war ein großes Unwohlsein. Man hat Sirenen gehört, Polizeihubschrauber gesehen. Lange war nicht klar, was wirklich passiert war, wie viele Verletzte es gegeben hat. Es waren viele Einsatzkräfte vor Ort. Man war auf das Schlimmste eingestellt."
Heute weiß man mehr: Ein 19-Jähriger hatte am Donnerstag gegen 14.30 Uhr das Kinocenter neben einem großen Einkaufszentrum betreten und sich dort mit einer Sturmhaube maskiert und bewaffnet. Er trug zudem Springerstiefel. Der Heranwachsende nahm vier Angestellte und 14 Besucher, darunter Kinder, als Geiseln und bedrohte sie. Er hatte eine Pistole und ein Gewehr bei sich, beides Schreckschusswaffen, sowie Handgranaten-Attrappen. Die Menschen wurden unverletzt befreit, der Täter von der Polizei erschossen. Das Motiv des Geiselnehmers, einem 19-jährigen Deutschen aus Mannheim, der zuletzt in Niedersachsen wohnte, ist weiter unklar. "Wir haben noch keine Hinweise", sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Anzeichen für einen politischen oder terroristischen Hintergrund gebe es nicht. Glück im Unglück war, dass bei dem sommerlichen Wetter das Kino nicht so voll wie üblich war.
"Sich nicht von seinen Ängsten leiten lassen"
Für viele wird es wohl noch lange dauern, das Geschehene zu verarbeiten. "Viele fragen sich, warum ausgerechnet hier zu dieser Zeit", erzählt Pfarrer Markus Eichler und ermutigt, mit den Sorgen und Ängsten nicht allein zu bleiben. Dadurch, dass alles letztlich noch relativ glimpflich ausgegangen sei, ließe es sich auch gut überwinden. "Eigentlich weiß jeder Mensch, dass das Leben endlich ist, dass ein Unfall, dass auch ein Schicksalsschlag oder ein Anschlag passieren kann", sagt Eichler. Aber je dichter solch ein Ereignis ist, umso mehr betroffen ist man auch davon. Er ermutigt alle, auch diejenigen, die nicht unmittelbar betroffen sind, sondern alles mitverfolgt haben, sich mit anderen darüber auszutauschen, um das Geschehene zu verarbeiten und sich nicht von seinen Ängsten leiten zu lassen - und um möglichst schnell wieder in den Alltag zurückkehren zu können. Christian Engelhardt, der Landrat des Landkreises Bergstraße, habe gestern gesagt, das soetwas an jedem Ort hätte passieren können, nicht nur in Viernheim, berichtet Eichler.
Wie für Pfarrer Markus Eichler ist auch für Pfarrer Klaus Traxler von der evangelischen Christuskirchengemeinde in Viernheim klar: "Ich bin da, wenn ich gebraucht werde". Gegenüber ekhn.de zeigt Pfarrer Traxler sich nachdenklich: "Durch dieses Ereignis wird mir die Zerbrechlichkeit von Leben sehr bewusst." Gerade bei Taufen erlebe er, dass die Menschen ein Bedürfnis nach Schutz und Begleitung haben, für ihr Kind wünschen sie sich, dass es in Situationen gehalten ist, in denen man nicht mehr alles in der Hand habe.
Hans Genthe, Social-Media-Pfarrer der EKHN, hatte gestern zu diesem Anlass auf ekhn.de ein Gebet formuliert: "Herr, sei bei den Menschen in Südhessen. Beruhige sie in ihrem Schrecken und tröste sie in ihrer Angst. Für uns selbst bitten wir: dass wir besonnen und mutig unseren Weg gehen." Beten hilft. Das findet auch Pfarrer Eichler: "Für mich ist das Gebet in meiner ganzen Arbeit bestimmend, dass ich Dinge auch an Gott abgeben kann und vertrauen kann, dass er mich auch durch die schwierigen Situationen im Leben trägt, mir Halt gibt, auch gerade wenn der Boden unter den Füßen wankt."
Die entkommenen Geiseln sollten sofort psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, um langfristige Folgen zu vermeiden: "Die Menschen haben diese Situation als für sie ausweglos erkannt, das ist eine unglaublich schwere Situation für sie", sagte der hessische Landesvorsitzende der Opferschutzorganisation Weißer Ring, Horst Cerny. Die Betroffenen sollten daher die Angebote der Krisenintervention nutzen und auch einen Therapeuten aufsuchen, damit es nicht zu Problemen wie einer posttraumatischen Belastungsstörung komme. Die betroffenen Kinder benötigten nun besondere Aufmerksamkeit, meint Cerny: "Hier ist es wichtig, dass man mit den Kindern spricht und ihnen altersgerecht erklärt, was passiert ist."
Pfarrer Markus Eichler will die Geiselnahme am Sonntag in seinen Gottesdienst in Viernheim integrieren und den Täter und seine Familie mit in die Fürbitte aufnehmen. Er lädt alle in den Gottesdienst ein, die gerade jetzt Halt und Nähe suchen. Diese Einladung bestehe aber immer, unabhängig von der Geiselnahme. "Es ist richtig, jetzt in der Gemeinschaft das Geschehene zu überwinden, gerade auch hier vor Ort. Es ist wichtig, dass man jetzt zusammenhält und sich nicht einschüchtern lässt." Dabei, die Ereignisse besser einordnen zu können, helfen auch die neueren Erkenntnisse.
Vieles spricht für einen provozierten Suizid
So geht die Kriminologin Britta Bannenberg davon aus, dass der Täter die Geiselnahme schon länger geplant hatte. Der Mann habe dies sicherlich schon Wochen, wenn nicht Jahre im Sinn gehabt. Möglicherweise habe er das auch angedeutet, sagte die Gießener Professorin, die über Amoktaten forscht. Nach Einschätzung des Kriminalpsychologen Rudolf Egg spricht vieles für einen provozierten Suizid. "Er hat bei dieser Demonstration von Macht und Gewalt im Stil eines Terroraktes die Tötung durch die Polizei in Kauf genommen oder möglicherweise sogar beabsichtigt", sagte der Fachmann. Die Tat erinnert an einen Vorfall in den USA aus dem Jahr 2012. Während der Mitternachts-Preview eines "Batman"-Films tötete damals ein 24-Jähriger in einem Kino in Aurora in Colorado zwölf Menschen, 70 wurden verletzt.