Berlin (epd). Der katholische Caritasverband stellt sich seiner dunklen Vergangenheit in der Arbeit mit Behinderten. Er präsentierte am Donnerstag in Berlin eine Studie über das Schicksal von 30.000 bis 50.000 behinderten Kindern und Jugendlichen in katholischen Heimen. Deren Leben in den Jahren zwischen 1949 und 1975 sei von Isolation, Unterordnung und Gewalt geprägt gewesen, bilanzierte die Studienleiterin und Ravensburger Sozialwissenschaftlerin Annerose Siebert.
Die Zahlen der von der Caritas finanzierten Untersuchung können nicht hochgerechnet werden auf alle behinderten Heimkinder in der frühen Bundesrepublik, geben aber den bisher umfassendsten Überblick über die Zustände in den katholischen Behinderten-Einrichtungen.
Demütigungen an der Tagesordnung
70 Prozent der damals dort lebenden Kinder und Jugendlichen haben körperliche und 60 Prozent psychische Gewalt erlitten. Jede und jeder dritte Befragte berichtet überdies von sexuellen Übergriffen. In 40 Prozent der Fälle waren Mitarbeiter die Täter. Aufklärung gab es keine, häufig konnten die Kinder nicht erkennen und in Worte fassen, was ihnen geschah. Mehr als die Hälfte hatte niemandem, dem sie sich anvertrauen konnten.
Der Umgangston war rau, die Regeln streng, Demütigungen waren an der Tagesordnung. Viele mussten schwer arbeiten, erhielten kaum Schulbildung und lebten isoliert am Rand von Städten und Gemeinden. Sie seien doppelt ausgeliefert gewesen und Opfer zweier Systeme geworden: der Kirche und dem Heimsystem, erklärte Studienleiterin Siebert.
Angesichts des Ausmaßes von Gewalt und vieler detaillierter Einzelschilderungen baten der Vorsitzende der Caritaskommission der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Rainer Maria Woelki, und der Präsident des Caritasverbandes, Peter Neher, die Betroffenen im Verzeihung. Einzelne Mitarbeiter in den Heimen hätten große Schuld auf sich geladen, versagt hätten aber auch die kirchlichen und staatlichen Institutionen. Einige der Ex-Heimkinder waren angereist zu einer Tagung nach Berlin, auf der die Ergebnisse der Studie vorgestellt wurden. Woelki kritisierte, ihr Schicksal und ihre Forderungen seien über einen viel zu langen Zeitraum nicht beachtet worden.
Erst in der vergangenen Woche hatten sich der Bund und die Länder über die Stiftung "Anerkennung und Hilfe verständigt", aus der ehemalige behinderte Heimkinder analog zu allen anderen Ex-Heimkindern bis zu 14.000 Euro in Geld und Sachleistungen bekommen können. Die Kirchen beteiligen sich zu einem Drittel an dem Fonds. Er soll 2017 starten, fünf Jahre nach den beiden Heimkinderfonds für West- und Ostdeutschland.
Willkürliche Entscheidungen
Jüngsten Berechnungen zufolge leben noch rund 97.000 ehemalige Heimkinder, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe waren oder sind. Bis in die 1970er Jahre waren 95 Prozent der Heime in kirchlicher Hand. Rund 40 Prozent gehörten zur Caritas, 60 Prozent wurden von evangelischen Trägern geführt.
Viele wurden Opfer willkürlicher und fachlich nicht nachvollziehbarer Entscheidungen. Knapp ein Viertel der Befragten wusste nicht, aus welchem Grund sie oder er ins Heim kam. Weitere zehn Prozent haben nachweislich weder eine körperliche noch eine geistige Behinderung. Die rund 1.000 bis 2.000 Kinder in katholischen Behinderteneinrichtungen in der DDR waren in die Studie nicht einbezogen.
Die Untersuchung war auf Initiative des Caritas-Fachverbandes Behindertenhilfe und Psychiatrie in Auftrag gegeben worden. Die Wissenschaftler befragten zunächst 45 Personen ausführlich und im Anschluss 339 weitere Personen anhand standardisierter Fragebögen, von denen 293 in die Auswertung eingingen. Die Interviewpartner wurden in Leichter Sprache oder mit Hilfe von Gebärdendolmetschern befragt. Alle leben bis heute in einer katholischen Einrichtung.
Die behinderten und nicht behinderten Kinder kamen im Durchschnitt mit neun Jahren ins Heim. Heute sind sie älter als 60, einige der Befragten sind hochbetagt. Nur 15 Prozent der behinderten Menschen, die schon so lange in katholischen Einrichtungen leben, können überhaupt befragt werden. Bei den anderen lässt die Behinderung eine Befragung nicht zu.