Harfenspielerin
Foto: Folkert Uhde
Konzertbesucher erwartet in der Lorenzkirche ein multimediales Erlebnis.
Emotionales Hören in auratischen Räumen
Bei der Internationalen Orgelwoche Nürnberg werden neue Konzertformen kultiviert...

Instrumente, Stimmen, Live-Elektronik, Filmprojektionen und Lichteffekte, Orgelklänge und DJ-Sound – wer das diesjährige Nachtkonzert der Internationalen Orgelwoche Nürnberg (ION) unter dem Titel "split in the wall" besucht, den erwartet ein künstlerisches Experiment besonderen Ausmaßes. Einen sinnlichen Erfahrungsraum verspricht das Programmheft, einen musikalischen Organismus, "der wie ein Körper pulsiert, sich anspannt, entspannt, zur Ruhe kommt, in Erregung gerät und scheinbar keinem vorstrukturierten Schema folgt". Der Zuhörer kann sich in der musikalisch bespielten Installation der japanischen Künstlerin Chiharu Shiota frei bewegen, seine Sinne und Wahrnehmungen schärfen, sich treiben lassen. Er entscheidet selbst, ob er die fünfstündige Performance als Ganzes genießt oder in ausgewählten Portionen.

Der Ort dieses Nachkonzerts, die Nürnberger Lorenzkirche, zählt zu den bedeutsamsten gotischen Sakralbauten Deutschlands. "Solche auratischen Räume reizen mich viel mehr als ein traditioneller Konzertsaal", sagt Folkert Uhde. Der Berliner ist nun im vierten Jahr der künstlerische Leiter der Orgelwoche. Neuartige Konzertformen, die Musik mit anderen Elementen wie Tanz, Film, Licht oder Elektronik verbinden, Hörgewohnheiten aufbrechen wollen, sind sein Markenzeichen. Folkert ist Mitgründer von "Radialsystem V", einem neu gestalteten Veranstaltungsort in einem Berliner Industriedenkmal. Er war Dramaturg der Akademie für Alte Musik Berlin, einem renommierten Barockorchester, hat verschiedene Konzertreihen und Festivals gestaltet und auch mit der Choreografin Sasha Waltz zusammengearbeitet.

Die Arbeit in Nürnberg führt Uhde auch zurück zu seinen Wurzeln. "Ich habe jahrelang in einer Kantorei gesungen", erzählt er. "Die Musik von Schütz, Schein und Bach hat mich geprägt." Sofort begeistert war Uhde von den Räumen, die bei der Orgelwoche genutzt werden. "Ich hatte sofort Ideen, wie man diese Orte bespielen könnte", erinnert er sich. "Diese alten Kirchen erzählen unheimlich viel – auch grausame Geschichten."

In seinem ersten Konzertprogramm konfrontierte Uhde Vertonungen von Klagepsalmen aus dem 17. Jahrhundert mit Bildern der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Stadt. "Dieser Auftakt war hart, hat die Menschen aber auch sehr berührt." Ein Anschluss-Projekt verknüpfte persönliche Familiengeschichten und Erinnerungen an Krieg und Zerstörung mit der Musik von Mozarts Jupitersinfonie.

Solche unerwartete Verbindungen stellen die Werke der klassischen Musik in einen neuen Zusammenhang, außerhalb des gewohnten Konzertbetriebs, der stark von Ritualen geprägt sei und viele Menschen abschrecke, so Uhde. Durch den neuen Kontext "wird das Hören zu einem emotionalen Erlebnis". Für die Besucher, aber auch für die Musiker. Etwa bei einer Aufführung der Bachschen Johannespassion im letzten Jahr, bei der die Sängerinnen und Sänger des Bayerischen Rundfunkchors in Straßenkleidung und aus dem Publikum heraus agierten. "Das bekam eine atemberaubende Intensität, jenseits aller Routine und Perfektion." In diesem Jahr hat sich Uhde ein weiteres Großwerk des Thomaskantors, die h-moll-Messe, vorgenommen. Dabei spielt das Licht eine tragende Rolle und gibt jedem der fünf Messeteile eine eigene Deutung.

"Klangproben", Orgel für Schüler und Festival-Labor

Die ION wird seit 1951 veranstaltet und ist das wohl größte und älteste Festival für geistliche Musik in Europa. Der angeschlossene Orgelwettbewerb zählt zu den renommiertesten überhaupt und ist ein Karrieresprungbrett für junge Künstler. Dieses Jahr ist er erstmals komplett öffentlich. Und auch sonst wurden Schwellen gesenkt: Es gibt tägliche "Klangproben" – Kurzkonzerte bei freiem Eintritt – und ein Angebot, bei dem Schülerinnen und Schüler das Instrument Orgel entdecken. Bei einem Festival-Labor zeigen Studierende der Hochschule für Musik Nürnberg eigene innovative Projekte.

Auch Folkert Uhde wurde nicht zuletzt deshalb engagiert, um dem Traditions-Festival ein neues und jüngeres Publikum zu erschließen. Mit seinen Konzepten knüpft er an eine innovative Prägung an, die der Organist und Komponist Werner Jacob der Orgelwoche in den 70er und 80er Jahren gegeben hatte. "Anfangs gab es natürlich Bedenken. Aber es ist uns gelungen, die Neugier zu wecken", zieht Uhde nach vier Jahren Bilanz. Das gilt für das Konzertpublikum, aber auch unter den Kirchenmusikern hat sich Uhdes Tun herumgesprochen. So wird der Festivalleiter zunehmend zu Vorträgen und Workshops über seine Arbeit eingeladen – etwa von der Projektgruppe "Vision Kirchenmusik" in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers. In Nürnberg will der umtriebige Konzertdesigner noch bis 2018 weitermachen. "Ich hab das Gefühl, ich bin noch nicht am Ende hier", sagt er.

Die 65. Internationale Orgelwoche Nürnberg (ION) dauert noch bis zum 12. Juni 2016. Das Programm umfasst mehr als 30 Veranstaltungen.