Berlin (epd). Es ist das Ende einer langen Debatte: Der Bundestag hat am Donnerstag die Vertreibung und Ermordung von 1,5 Millionen Armeniern vor 100 Jahren als Völkermord eingestuft. Das Parlament hatte lange gerungen. Aus Rücksicht auf die Türkei, die diese Bezeichnung für die Verbrechen auf ihrem Territorium in den Jahren 1915 und 1916 ablehnt, hatte Deutschland diese Bezeichnung lange vermieden. Nun ist sie der Beginn einer neuen Auseinandersetzung mit der Türkei. Aus Protest gegen die Entscheidung des deutschen Parlaments rief die Regierung in Ankara ihren Botschafter aus Berlin zurück. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) versuchte, zu beschwichtigen.
Nur eine Gegenstimme
Die Entscheidung im Parlament fiel fast einstimmig. Bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung wurde ein Antrag angenommen, in dem es heißt, das Schicksal der Armenier stehe "beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gekennzeichnet ist". Das Papier benennt erstmals auch eine Mitschuld des Deutschen Reiches, das als enger Verbündeter der damaligen jungtürkischen Regierung zu den Verbrechen geschwiegen hatte. Auch die Linkspartei stimmte für die Resolution, obwohl sie gegen den Antrag von Union, SPD und Grünen ein eigenes Papier eingebracht hatte.
Der SPD-Abgeordnete Rolf Mützenich beschrieb die Resolution als Appell zur Selbstverantwortung und zur Aufarbeitung an die Türkei und Armenien. Der CDU-Politiker Franz Josef Jung sagte, der Antrag sei Ausdruck des Respekts vor den Opfern. Die Bezeichnung der Verbrechen an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten als "Völkermord" erfolge in Übereinstimmung mit der Definition der Vereinten Nationen.
Antrag lag lange in Ausschüssen
Schon vor einem Jahr, zum 100. Jahrestag des Beginns der Verbrechen, wurde im Bundestag über die Verwendung des Begriffs gestritten. Ein Antrag blieb seither in den Ausschüssen hängen. Die Grünen brachten das Thema im Frühjahr schließlich wieder auf die Tagesordnung und zwangen die Koalition zu einem diplomatisch brisanten Zeitpunkt zur Beschäftigung mit dem Thema.
Immerhin ist die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Ankara im Zuge des EU-Türkei-Abkommens immer enger geworden. Von diesem Abkommen und den Versuchen der Einflussnahme von Resolutionsgegnern - teilweise auch in Form von Hassmails und Todesdrohungen - zeigte sich das Parlament aber bewusst unbeeindruckt. "Der Zeitpunkt, um über etwas so Grausames zu sprechen wie einen Völkermord, ist nie günstig", sagte der Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir.
Das türkische Außenministerium, das am Donnerstag die Abberufung des Botschafters aus Berlin bestätigte, bezeichnete die Resolution als "Beispiel für Ignoranz und Missachtung" des Rechts. Es forderte Rücksicht auf türkische Befindlichkeiten und verwies auf die enge Verbindung zwischen der Türkei und der EU und damit auch Deutschland.
Merkel beschwört Freundschaft mit Ankara
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die ebenso wie Vizekanzler Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (beide SPD), nicht an der Abstimmung teilnahm, beschwor nach der Abstimmung die Freundschaft zwischen Berlin und Ankara. Die Tiefe der Beziehungen sei groß, auch wenn man in vielen Fragen unterschiedlicher Meinung sei, sagte Merkel in Berlin.
Die Kirchen begrüßten die Entscheidung des Bundestags. Es gebiete die Redlichkeit, keinen Zweifel daran zu lassen, dass es sich bei den Verbrechen gegen die Armenier nicht um kriegsbedingte Exzesse, "sondern um eine systematische Vernichtungsaktion, um einen Genozid" gehandelt habe, sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx.
Die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Irmgard Schwaetzer, sagte, damit habe sich das Parlament "zu der Mitverantwortung bekannt, die Deutschland durch das Mittun und Wegsehen am Genozid an den Armeniern unübersehbar hat". Die Vertreibung und Vernichtung von Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen begann am 24. April 1915. Den Massakern und Deportationen fielen bis zu 1,5 Millionen Menschen zum Opfer.