Die Unterschiede liegen im Detail: Danquarts Held war ein 1942 aus dem Warschauer Ghetto geflohener jüdischer Junge auf der Flucht vor den Deutschen. "Wolfskinder" spielt dagegen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Ostpreußen: Auf dem Sterbebett beschwört eine Mutter (Jördis Triebel) ihren 14jährigen Sohn Hans, auf seinen kleinen Bruder Fritz aufzupassen. Die beiden sollen nach Litauen fliehen, "über die Memel und dann immer nach Osten"; dort, hofft die Mutter, würden sie von barmherzigen Bauern aufgenommen.
Rick Ostermann (Buch und Regie) hat sich für sein Langfilmdebüt einen ausgesprochen düsteren Stoff ausgesucht. Das Schicksal der tatsächlich so genannten Wolfskinder ist eines der vielen finsteren Weltkriegskapitel (1990 hat Eberhard Fechner einen gleichnamigen Dokumentarfilm darüber gedreht): Weil die Soldaten der Roten Armee Ostpreußen derart geplündert hatten, dass es kaum noch Nahrung gab, schickten viele Familien ihre Kinder ins befreundete Litauen. Niemand weiß, wie viele Kriegswaisen sich damals auf die beschwerliche Wanderung gemacht haben; Schätzungen sprechen von 25.000 Jungen und Mädchen. Wer es tatsächlich bis nach Litauen schaffte, hat in der Regel seinen Namen geändert. Trotzdem wurden viele ins sowjetische Straflager deportiert, wo die meisten starben. Es ist daher völlig unklar, wie viele dieser Kinder die Flucht vor dem Hunger und den Russen überlebt haben.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Anders als Danquarts pfiffiger und daher automatisch sympathischer Held hat Hans keine Zeit, auch noch nett zu sein. Der Film kommt sowieso größtenteils ohne Dialoge aus. Da sich die Musik meist dezent im Hintergrund hält, hört man über weite Strecken nur die Geräusche, die der Wind verursacht. Die meisten Erwachsenen stellen eine stumme Bedrohung dar, und wenn sie zu Wort kommen, versteht man sie ebenso wenig wie Hans; es sei denn, man spricht russisch. Warum die Soldaten die Kinder jagen, wird nicht weiter erläutert. Auch dieser Umstand verstärkt natürlich die Identifikation mit den jungen Hauptfiguren. Die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage rechtfertigt auch den späten Sendetermin, ganz zu schweigen von Szenen wie jener, als die beiden Brüder aus lauter Hunger gleich zu Beginn ein Pferd töten. Ostermann, dessen Drehbuch unter anderem auf Gesprächen mit Menschen basiert, die die Flucht überlebt haben, filmt den Vorfall ähnlich sachlich wie einen späteren Mord aus Versehen, als Hans einem russischen Jungen den Mund zuhält, weil dessen Husten sie zu verraten droht. "Wolfskinder" ist wahrlich kein Film, der es seinen Zuschauern leicht macht.