"Es ist nicht nur Verwaltungsarbeit, sondern auch geistliche Arbeit, die wir hier machen", sagt Linda Kleinsorge. Die 47-Jährige ist seit 2011 im Kirchenvorstand der evangelischen Emmausgemeinde in Jügesheim, einer der drei Gemeinden von Rodgau, deren Vorstände sich zu dem Kurs "Sehnsucht nach mehr" zusammengefunden haben. Es ist der dritte von vier Kursabenden, das Thema lautet: "Die Bibel – Mehr als nur ein Buch".
Knapp 20 Männer und Frauen sitzen im Kreis, in der Mitte liegt ein blaugelbes Tuch auf dem Holzfußboden, rund um eine große Kerze sind Zettel verteilt, die gleich noch zum Einsatz kommen. Pfarrer Axel Mittelstädt zündet die Kerze an und beginnt mit einem Spruch, der hier in Jügesheim Tradition hat: "Jesus Christus spricht: Ich bin das Licht der Welt. Wo Menschen in meinem Namen zusammenkommen, da ist Licht, es breitet sich aus, es wärmt uns. Da ist Gottes Liebe mitten unter uns." Einige sprechen die Worte mit. Dann geht's los – zweieinhalb Stunden Crashkurs zu Fragen wie: Ist die Bibel Gottes Wort? Brauchen Christen das Alte Testament und sollen sie es so nennen? Und zum Schluss eine Runde "Bibelteilen", eine Methode der gemeinsamen Lektüre, bei der es schnell in die Tiefe geht.
"Ein Gegengewicht gegen diesen pragmatischen Sog"
Doch schon in der Einstiegsrunde sind manche Teilnehmende erstaunlich offen. Ihre Aufgabe: Aus dem Gedächtnis ihre Lieblingsbibelstelle notieren und davon erzählen. Viele zitieren Vertrauens-Verse wie "Befiel dem Herrn deine Wege" (Psalm 37,5) oder "Er hat seinen Engeln befohlen…" (Psalm 91,11). Aber auch von der Verantwortung, Christ zu sein, ist die Rede: "Ihr seid das Salz der Erde" (Matthäus 5,13), schreibt ein Mann in Blockbuchstaben auf seinen Zettel. Linda Kleinsorge hat einen Psalmvers notiert, beziehungsweise damit eingefangen – ein Wort fällt ihr nicht ein: "Der Herr ist mein … und mein Heil." Die anderen helfen: "Licht" heißt das fehlende Wort (Psalm 27,1). "Für mich ist es gut, dass ich ein bisschen bibelsicherer werde", sagt Linda Kleinsorge.
"Brauchen denn Menschen, die eine Gemeinde leiten, eine Einführung in den christlichen Glauben?", fragt sich der Erfinder des Kurses, Klaus Douglass, im Vorwort des DIN-A 4-großen Arbeitsbuches selbst. Douglass ist Pfarrer und Referent für missionarisches Handeln und geistliche Gemeindeentwicklung in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Es geht ihm nicht darum, den engagierten Männern und Frauen zu unterstellen, sie wüssten zu wenig – auch wenn manche neu in die Kirchenvorstände gewählt wurden und vielleicht das im Konfi-Unterricht Gelernte nicht mehr komplett abrufen können. "Kirchenvorstände sollten schon ein gewisses Bibelgrundwissen haben, einfach weil sie die geistliche Leitung sind", findet Kirchenvorsteherin Corinna Jäger, 48, aus Nieder-Roden. "Ganz neu ist es für keinen von uns", meint dazu Uwe Slosinski, 33, der ebenfalls im Jügesheimer Kirchenvorstand mitarbeitet. Slosinski hat das Ziel des Kurses klar vor Augen: "Es ist gut, immer mal wieder drüber nachzudenken, und vor allem der Austausch ist wahnsinnig bereichernd."
Die Leitungsgremien der Gemeinden stünden ganz schön unter Druck, erklärt der Jügesheimer Pfarrer Axel Mittelstädt – so vieles sei zu regeln und zu organisieren. Der Glaubenskurs sei "ein Gegengewicht gegen diesen pragmatischen Sog", sagt Mittelstädt, eine "Inspiration und Kraftquelle". Besonders stark findet er, "dass man da in Kontakt kommen und etwas von dem eigenen Glauben artikulieren kann und erfasst, was jeden so berührt – und wie unterschiedlich und wie wertvoll das ist." Mittelstädt ist hörbar begeistert von seinen KV'lern, die so unterschiedliche Begabungen mitbringen. Klaus Douglass sieht in dem Kurs einen Ausdruck der Wertschätzung von seiner Landeskirche für diese engagierten Menschen, gerade weil "Sehnsucht nach mehr" ganz speziell auf Kirchenvorstände zugeschnitten ist: In den vier Einheiten geht es nicht nur um Grundlagen, sondern immer auch um praktische Folgen des Glaubens für die Gemeindeleitung. Es ist übrigens der deutschlandweit erste komplett vorbereitete Kurs mit der Zielgruppe "Kirchenvorstand". Andere Landeskirchen und christliche Einrichtungen haben schon in Hessen-Nassau nach den Mappen gefragt, und Klaus Douglass freut sich darüber.
Beim Bibelteilen wird die Runde ernst – und sehr ehrlich
Im Jügesheimer Gemeindezentrum galoppieren die Rodgauer Kirchenvorstände durch ihre Bibel-Lektion, die wohl in einem theologischen Seminar an der Uni ein ganzes Semester dauern würde: Wie ist der Kanon der biblischen Bücher entstanden? Wie liest und benennt man das Alte Testament, ohne dessen Stellenwert für das Judentum zu verleugnen? Was spricht dafür, dass die Texte der Bibel von Gott inspiriert sind – oder von Menschen geschrieben? Pfarrerin Sabine Beyer schreibt Argumente für beides auf große Papierbögen an der Wand. Von der mitgelieferten CD erklärt eine Stimme, dass man die Texte unterschiedlich gewichten solle und dass Martin Luther genau das mit dem Kriterium "was Christum treibet" getan hat. Schwarzbrot für die Menschen im Stuhlkreis.
In Kleingruppen reden sie über ihr persönliches Bibelverständnis, über Erfahrungen mit Taufsprüchen – und sogar über die plötzliche Erleuchtung, wenn einem der Konfispruch quasi vor die Füße fällt. "Die Bibel will einen Dialog eröffnen. Zwischen Gott und uns. Und auch untereinander", sagt die Stimme von der CD. Das "untereinander" üben sie nun ganz konkret beim Bibelteilen: Es geht es um einen Text aus 1. Johannes 4, "Gott ist Liebe…", so fängt er an. Eine Frau erzählt, dass ihr als Kind ein Gott vermittelt wurde, vor dem sie sich fürchten musste. Ist die "Liebe noch nicht an ihr Ziel gelangt" (Vers 18)? Die Runde wird ernst – und sehr ehrlich. Zweifel kommen zur Sprache, und auch ethische Fragen: Wie verhalte ich mich, wenn plötzlich beim Abendmahl jemand neben mir steht, mit dem ich im Streit liege? "Wer ihn liebt, muss auch seinen Bruder und seine Schwester lieben", steht schließlich in Vers 21.
Als es gegen 21.30 Uhr richtig anstrengend geworden ist mit dem Nachdenken über die Gottes- und Geschwisterliebe, macht ein Teilnehmer einen Witz darüber, dass bei ihm "die Güte mit dem Alter zunimmt" – und die Anspannung im Gemeindezentrum Rodgau-Jügesheim löst sich in Lachen auf. Ein Gebet beschließt den Abend, jemand bläst die Kerze aus. Mit einer großen Ladung Bibelwissen im Kopf und den unterschiedlichsten Emotionen im Gemüt gehen die Kirchenvorsteherinnen und Kirchenvorsteher nach Hause. Manches sind sie in den Gesprächen losgeworden, anderes nehmen sie mit – so wachsen Glaube und Vertrauen. Nächstes Mal wird es um das Abendmahl gehen. Wieder Schwarzbrot für die Rodgauer Gemeindeleitungen.