Die Unterschiede zwischen dem ersten "Zürich-Krimi" und dem zweiten Teil sind verblüffend; und das nicht nur, weil die junge Juristin, die der Hauptfigur zur Seite steht, nicht mehr von Katrin Bauerfeind, sondern von Ina Paule Klink verkörpert wird. Für die Schauspielerin muss sich die Rolle allerdings wie ein Déjà-vu angefühlt haben: Sie spielt exakt die gleiche Figur wie in den "Wilsberg"-Filmen. Davon abgesehen aber erzählt "Borcherts Abrechung" eine völlig andere Geschichte. Entscheidender ist jedoch die Qualität der Umsetzung: Die Intensität ist deutlich höher, die Handlung ungleich fesselnder (Regie führte der kürzlich verstorbene Carlo Rola). Im Grunde wirkt der Film, als sei "Borcherts Fall" (Regie: Matthias Steurer) nur die Generalprobe gewesen; "Borcherts Abrechnung" ist eine Klasse besser.
Autor ist diesmal Wolf Jacoby, der sein Drehbuch auf Basis einer Vorlage von Verena Kurth, der Autorin von Teil eins, verfasst hat. Während bei "Borcherts Fall" dem Titel zum Trotz die Suche nach einem entführten Jungen im Vordergrund stand, geht es jetzt einzig und allein um den Wirtschaftsanwalt. Nun wird auch die Vorgeschichte in ihrer ganzen Komplexität referiert. Der Film ist zwar über weite Strecken entsprechend wortreich, aber die Dialoge sind gut geschrieben: Der Schweizer Jurist Thomas Borchert, von Christian Kohlund in der Fortsetzung für seine Verhältnisse deutlich transparenter verkörpert, sollte mit zwei Kollegen im Auftrag eines deutschen Konzerns neue Aufträge in Südamerika an Land ziehen. Dem Trio stand ein umfangreiches Konto mit Bestechungsgeld zur Verfügung. Ein großer Teil dieses Geldes ist allerdings abgezweigt und auf ein angeblich von Borchert eingerichtetes Konto eingezahlt worden. Nun soll sich der Anwalt vor Gericht verantworten. Sein Ex-Chef (Markus Boysen) schlägt ihm einen Deal vor: Er soll die Bestechung auf seine Kappe nehmen; im Gegenzug verzichtet der Konzern auf eine Klage wegen Unterschlagung. Borchert hat drei Tage, um über das Angebot nachzudenken. Er will die Zeit jedoch nutzen, um seine Unschuld zu beweisen; nicht an der Bestechung, dazu steht er, aber an der Unterschlagung. Auf seine beiden Ex-Kollegen kann er dabei jedoch nicht zählen: Der eine hat sich das Leben genommen, der andere ist wie vom Erdboden verschluckt.
Die ARD und ihre Tochter Degeto werden ihre Gründe haben, warum die neue Reihe nicht gleich mit dieser Geschichte begonnen wurde; vielleicht befürchtete man, das Sujet Wirtschaftskriminalität sei nicht "sexy" genug. Genau genommen ist das Gegenteil der Fall: Der Film startet mit Aufnahmen von äußerst sparsam bekleideten jungen Frauen. Tatsächlich gibt schon der Einstieg in "Borcherts Abrechnung" einen völlig neuen Tonfall vor. Die verfremdeten Bilder stammen aus einem Traum Borcherts, ein rasanter Aufzug symbolisiert das Tempo, in dem sich seine Karriere steil nach oben entwickelte; die Frauen sind Prostituierte, mit denen die drei Europäer (Janek Rieke und Kai Scheve spielen die Kollegen) in Brasilien ihre Erfolge feierten.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dass Fotos von diesen Sexpartys in die Presse gelangen, macht Borcherts Leumund nicht besser. Anwältin Dominique Kuster (Klink), Tochter eines alten Studienfreundes (Robert Hunger-Bühler), kann Menschen seines Schlages ohnehin nicht ausstehen und hat nun erst recht Lust mehr, sein Mandat zu übernehmen. Ihre Haltung ändert sich allerdings, als sie die tragischen Details seiner Lebensgeschichte erfährt. Dank der vielen Informationen, die der Film über seine Hauptfigur preisgibt, bekommt Borchert ohnehin ungleich mehr Tiefe als im ersten Teil; nun wird auch klar, warum er es vorzieht, in einem Wohnwagen im Garten seines Zürcher Elternhauses zu leben, anstatt das mondäne Domizil zu beziehen. Die Dialoge sind griffiger, Zürich kommt besser zur Geltung (selbst wenn erneut viel in Prag gedreht worden ist). Vor allem jedoch ist die Geschichte dank zweier echter Knüller ungleich überraschender, zumal der Wirtschaftskrimi am Ende unerwartet zum Thriller wird.