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TV-Tipp: "Kaltfront" (ARD)
4.5., ARD, 20.15 Uhr: "Kaltfront"
"Kaltfront": Das klingt nach einer kühlen und potenziell freudlosen Geschichte. Tatsächlich ist das Langfilmdebüt von Lars Henning (Buch und Regie) eine bis an die Grenze zur Leidenschaftslosigkeit sachlich wirkende Beobachtung von vier Menschen, deren Lebenswege durch ein viele Jahre zurückliegendes verhängnisvolles Ereignis miteinander verknüpft sind.

Der aus Aufnahmen einer Überwachungskamera bestehende Prolog dokumentiert es bereits, aber die Zusammenhänge entschlüsselt der Film erst später. Die eigentliche Geschichte beginnt im Gefängnis: Nach 16 Jahren Haft wird Judith (Jenny Schily) Freigängerin. "Wer sich umdreht, kommt wieder", gibt ihr ein JVA-Mann mit auf den Weg. Zweite Hauptfigur ist Anna (Lana Cooper), eine Frau von Ende zwanzig, die im Krankenhaus aufwacht; der behandelnde Arzt tippt auf misslungenen Suizidversuch. Auch die dritte Erzählebene setzt an einem Wendepunkt ein: Jan (Leonard Carow) kommt in eine neue Klasse. Der Stotterer kriegt zur Begrüßung nicht mal seinen Namen raus; kein guter Start. Als ihm später einige Jungs auf dem Klo auflauern, zückt er ein Springmesser; Jan kann auch anders, und Henning deutet früh an, dass die Sache für alle Beteiligten kein gutes Ende nehmen wird.

Vierter im Bunde ist David Roloff (Christoph Bach), ein Bankierssohn, der mit einer peinlichen Mutter (Daniela Ziegler) geschlagen ist; sie leitet nach dem Tod des Gatten die Geschicke des Geldinstituts, widmet sich aber offenbar in erster Linie dem Konsum teuren Alkohols. David, hinter seinem Rücken in der renommierten Privatbank "Prinz Charles" genannt, scheint zunächst nicht recht in das Quartett zu passen; ähnlich wie Jan hat auch er vor vielen Jahren seinen Vater verloren. Nach und nach und außerdem angenehm beiläufig lässt Henning die Vorgeschichte einfließen: Vor gut 16 Jahren hat Judith mit einem Komplizen das Bankhaus Roloff überfallen. Dabei wurden ein Wachmann und der Direktor erschossen, Judith wurde schwer verletzt; der Wachmann war Jans Vater. Die Identität des Mittäters hat Judith nie verraten. Henning gibt sie preis, als einer ihrer ersten Wege ins Krankenhaus zu Erik führt (Rainer Bock); kurz drauf erfährt Anna, dass ihre Mutter eine verurteilte Raubmörderin und ihr Vater nicht ihr Vater ist.

Allein das große Geschick, mit dem Henning die verschiedenen Erzählebenen mehr und mehr miteinander verknüpft, ist faszinierend. Andererseits tut er alles, um den Film jedes Wohlbefinden auszutreiben: Ausstattung und Kostüm sind betont unbunt, auch die Stadtansichten (Kamera: Armin Alker) sehen aus, als seien sie zu heiß gewaschen worden. Dafür ist die Kamera umso dichter an den handelnden Personen. Auf diese Weise erzeugt Henning einen reizvollen Kontrast: Die Bildgestaltung suggeriert Distanz, die Bildinhalte stellen Nähe her. Mit dem Personal hält er es genauso: Keine Figur ist rundum sympathisch; trotzdem ist es ihm gelungen, sie ausnahmslos so interessant zu gestalten, dass sie dennoch zur Identifikation einladen.

Nach der Einführung der vier Hauptfiguren sorgt Henning dafür, dass sich ihre Wege immer wieder kreuzen; oder dass sie, zum Beispiel beim Sex, zumindest zur selben Zeit der gleichen Tätigkeit nachgehen. Nur einmal, gegen Ende, wird es unglaubwürdig, als die einsam durch die Stadt streifende Judith ausgerechnet zu David, den sie natürlich nicht erkennt, ins Auto steigt. Ansonsten gelingt die mit eindrucksvoller Souveränität konstruierte Dramaturgie derart gut, dass ein Vergleich mit ähnlich konzipierten Filmkunstwerken alles andere als abwegig ist. Davon abgesehen lässt Henning von Anfang an keinen Zweifel daran, dass sich die vier Hauptfiguren unabhängig voneinander auf einen Abgrund zu bewegen. Die einzig offene Frage ist die, wen die Geschichte am Schluss mit in die Tiefe reißen wird; aber klar ist auch, dass die Überlebenden keine Gewinner, sondern in jedem Fall Verlorene sein werden. Als Jan dem Freund seiner Mutter, einem Polizisten, die Pistole klaut, um seiner neuen Clique zu imponieren, nimmt das Schicksal seinen Lauf.