Wenn sich der "Tatort" aus Köln bestimmter Missstände annimmt, wird es gern grundsätzlich. Manchmal zieht das Preise nach sich, etwa den "Marler Fernsehpreis für Menschenrechte" von Amnesty International für "Minenspiel", aber gerade in den Anfangsjahren schien den Filmemachern das Anliegen mitunter wichtiger als die Krimispannung. Bei "Minenspiel" galt dies der unüberhörbaren Botschaft zum Trotz nicht, und auch "Narben" ist in erster Linie Krimi. Das könnte mit dem Regisseur zusammenhängen, denn der ist in beiden Fällen der gleiche; zu Thorsten C. Fischers Meriten gehört nicht nur ein sehenswerter Spielfilm über Romy Schneider ("Romy"), sondern auch der in gut zwei Wochen ausgestrahlte spannende Auftakt zur neuen ARD-Reihe "Emma nach Mitternacht". "Narben" basiert auf einem Drehbuch von Rainer Butt und erzählt wie so viele Krimis in letzter Zeit eine Flüchtlingsgeschichte, die allerdings ähnlich wie "Die Feigheit des Löwen" (2014), ein "Tatort" mit Wotan Wilke Möhring, einen doppelten Boden hat.
Zunächst beginnt der Film jedoch ganz klassisch: Der schwarze Arzt Patrick Wangila ist nachts vor seinem Kölner Krankenhaus erstochen worden. Die Kommissare Ballauf und Schenk (Klaus J. Behrendt, Dietmar Bär) tun ihre Arbeit, sie befragen die Kolleginnen und die Ehefrau (Anne Ratte-Polle), die seltsam wenig über ihren Mann weiß, und suchen, da kein Raubmord vorliegt, nach Motiven wie Missgunst oder Eifersucht. Tatsächlich wird sich später zeigen, dass der Arzt eine Affäre mit einer Pflegerin (Laura Tonke) hatte, aber das spielt im Rahmen der Handlung keine größere Rolle. Interessant in vielerlei Hinsicht wird der Fall, als sich rausstellt, dass es kürzlich im Rahmen einer Razzia in einem Flüchtlingsheim einen Todesfall gegeben hat: Eine Frau ist bei der Flucht über die Feuertreppe abgestürzt und hat sich das Genick gebrochen. Sie war ebenso wie Wangila, der die Polizei bei dem Einsatz als Notarzt begleitet hat, ein Flüchtling aus dem Kongo; ihre Freundin ist seither verschwunden. Ballauf konzentriert sich nun auf den Leiter der Einsatzgruppe, einen uniformierten Kollegen namens Kaiser (Felix Vörtler); seine Truppe ist dafür berüchtigt, bei ihren Maßnahmen gern mal übers Ziel hinauszuschießen, erst recht, wenn es um Menschen mit Migrationshintergrund geht. Auch das aber ist bloß ein Nebenschauplatz. Zum Kern der Geschichte führen schließlich Briefe, die die Freundin der Toten an ihre Tochter geschrieben hat. Eine Ärztin (Julia Jäger), die sich ehrenamtlich für Flüchtlinge engagiert und einst auch Wangila seinen Job verschafft hat, liest sie Ballauf vor. Auf die Spuren, die Missbrauch, Misshandlung und Folter auf dem Körper der Afrikanerin und vor allem auf ihrer Seele hinterlassen haben, bezieht sich der Titel. Das geschilderte Grauen ist entsetzlich, und langsam dämmert nicht nur den Kommissaren eine furchtbare Erkenntnis: Nicht jeder Flüchtling ist automatisch auch ein Opfer.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Abgesehen von dem rein verbalen Grauen verzichten Butt und Fischer weitgehend auf Gewalt oder Action-Einlagen; mit Ausnahme allerdings des packenden brutalen Finales. Angesichts der entsprechenden Dramatik rückt fast in den Hintergrund, dass der Mordfall nach wie nicht geklärt ist. Bis dahin ist es oft allein die unaufdringliche, aber dennoch stets präsente Musik (Steffen Kaltschmid, Fabian Römer), die für Spannung sorgt. Äußerst gelungen ist auch die Integration der Rückblenden in die Rahmenhandlung. Ein jederzeit fesselnder, vorzüglich gespielter "Tatort".