Auswärtiges Amt öffnet Akten zu "Colonia Dignidad"
Steinmeier: Sektensiedlung war kein Ruhmesblatt für deutsche Diplomatie
Was in der Deutschen-Siedlung im Süden Chiles alles an Verbrechen geschah, ist noch längst nicht ganz geklärt. Akten des Auswärtigen Amtes könnten wichtige Hinweise dazu geben. Die deutsche Diplomatie dürfte dabei in ein schlechtes Licht rücken.

Berlin, Quito (epd) Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat Akten zu der umstrittenen deutschen Sektensiedlung "Colonia Dignidad" vorzeitig freigegeben. Wissenschaftler und Journalisten könnten nun Einsicht in die Dokumente aus der Zeit von 1986 bis 1996 nehmen, kündigte der Minister am Dienstagabend bei einem Treffen mit Opfern der Sekte in Berlin an. Menschenrechtler fordern eine Expertenkommission zur Rolle der deutschen Diplomatie in Chile und Hilfen für die Opfer der Kolonie.

Steinmeier beklagte Versäumnisse deutscher Diplomaten, die bei den Vorgängen in der "Colonia Dignidad" weggeschaut hätten, deutschen Bürgern Schutz verweigert und sogar Ehrenerklärungen für die Siedlung abgegeben hätten. "Der Umgang mit der 'Colonia Dignidad' ist kein Ruhmesblatt, auch nicht in der Geschichte des Auswärtigen Amtes", sagte Steinmeier. Nur mutigen Einzelpersonen sei zu verdanken, dass die Wahrheit langsam ans Licht gekommen sei. Er zitierte den Botschaftsmitarbeiter Dieter Haller, der 1987 nach einem Besuch der Kolonie entsetzt schrieb: "So muss Theresienstadt gewesen sein."

Kindesmissbrauch und Zwangsarbeit vorgeworfen

Unterdessen prüft die Staatsanwaltschaft Krefeld, ob der in Chile zu fünf Jahren Haft verurteilte Sektenarzt Hartmut Hopp in Deutschland ins Gefängnis muss. Nach Angaben eines Sprechers der Staatsanwaltschaft ist die Prüfung in der letzten Phase. Mit einem Ergebnis sei voraussichtlich nach Pfingsten zu rechnen, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Mittwoch. Hopp war nach seiner Verurteilung 2010 nach Deutschland geflohen.

Der Menschenrechtsanwalt Andreas Schüller drängte die Justiz in Nordrhein-Westfalen zum Handeln. "Die Ermittlungen laufen seit fünf Jahren", sagte er dem epd. Die Staatsanwaltschaft müsse endlich dem Landgericht Krefeld das Vollstreckungsersuchen Chiles vorlegen. Wolfgang Kneese, der in der Sektensiedlung gelitten hat und im dritten Anlauf fliehen konnte, nannte es unerträglich, dass der Sektenarzt Hopp in Deutschland auf freiem Fuß ist.

Der 1961 von dem Deutschen Paul Schäfer gegründeten "Colonia Dignidad" (Kolonie der Würde) im Süden Chiles werden Kindesmissbrauch, Zwangsarbeit und Freiheitsberaubung vorgeworfen. Unter der Pinochet-Diktatur (1973-1990) befand sich dort ein Folterzentrum. Schäfer tauchte 1997 unter, wurde 2005 festgenommen und in Chile zu 33 Jahren Haft verurteilt. 2010 starb er in einem Gefängniskrankenhaus. Die frühere "Colonia Dignidad"-Siedlung heißt nun Villa Baviera.

Menschenrechtler und Opfer fordern Expertenkommission

Chiles Außenminister Heraldo Muñoz begrüßte die Öffnung der Archive. "Diese Informationen werden dazu beitragen, die Verbrechen, die dort begangen wurden, aufzuklären", sagte er laut Berichten des Fernsehsenders Tele 13.

Steinmeier gestand ein, dass deutsche Diplomaten geflohenen Sektenmitgliedern nicht nur Hilfe verweigert, sondern sie zurückgeschickt hätten. Auch nach der Auflösung der Kolonie nach 2005 habe das Auswärtige Amt "die notwendige Entschlossenheit und Transparenz vermissen lassen, seine Verantwortung zu identifizieren". Der Menschenrechtsaktivist Dieter Maier lobte, es sei ein Novum in der deutschen Geschichte, dass ein amtierender Minister die Vergangenheit seiner eigenen Behörde kritisiere und Akten zu dem Thema öffnen lasse. "Das sollte Schule machen", sagte Maier.

Menschenrechtler und Opfer fordern derweil eine Expertenkommission zur Aufarbeitung der Rolle der deutschen Diplomatie in Chile und finanzielle Hilfen. Es müsse über Rentenzahlungen nachgedacht werden, sagte Opfer-Sprecherin Anna Schnellenkamp. Nach Jahren der unentgeltlichen Zwangsarbeit hätten viele ehemalige Sektenmitglieder nicht für ihr Alter vorsorgen können. Der Jurist Schüller vom Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) sagte, viele Opfer lebten unter prekären Umständen.