Am 20. September 2015 war es endlich soweit: Mit seiner Unterschrift setzte bei einem Festakt in Kathmandu der damalige Präsident Nepals, Ram Baran Yadav, die erste demokratische Verfassung des Himalajastaates in Kraft. Offiziell ist die ehemalige weltweit einzige hinduistische Monarchie seitdem ein föderaler und säkularer Staat. Die Realität sieht anders aus.
Offenbar hatte das Erdbeben der Stärke 7,8 vom 25. April 2015 nicht nur Nepals Boden und Berge ordentlich durchgeschüttelt und mehr als 8000 Menschen das Leben gekostet. Das schwerste Beben in Nepal seit 80 Jahren hat auch die Politikerkaste wachgerüttelt. Rückblende: 2007 ging der lange und blutige Bürgerkrieg der Maoisten mit dem Sturz der 240 Jahre alten hinduistischen Monarchie, der Erklärung Nepals zu einem säkularen Staat und dem Erlass einer Übergangsverfassung zu Ende. Es sollten aber noch acht Jahre erbitterter Diskussionen und einer Reihe ergebnislos verstrichener Ultimaten vergehen, bis sich die politischen Parteien nach dem Erdbeben endlich auf den Text der neuen Verfassung einigen konnten.
Mit der Freude über die Grundlage eines säkularen, demokratischen und föderalen Nepal war es bei ethnischen und religiösen Minderheiten nach der Durchsicht des Kleingedruckten aber schnell vorbei. Bei dem gepriesenen Säkularismus handelt es sich um eine Mogelpackung. Durch die Hintertür kehrt der Hinduismus als Staatsreligion zurück. Türöffner sind der Artikel 26 und der Begriff "Sanatana Dharma".
Konvertieren verboten
Artikel 26 verbietet das Konvertieren einer Person zu einer anderen Religion. Weiter schreibt Artikel 26 vor, dass Konversionen bestraft werden müssen. Der entsprechende Gesetzentwurf liegt inzwischen vor. Demnach soll eine Konversion mit fünf Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von umgerechnet 480 Euro bestraft werden. Das ist viel Geld in dem Land mit einem Bruttoinlandsprodukt von 460 Euro pro Einwohner.
Säkularismus definiert die Verfassung als "Schutz des Sanatana Dharma". Das aber ist ein ambivalenter Begriff. Bei großzügiger Auslegung kann damit eben "Schutz der Religionsfreiheit" gemeint sein. Aber Sanatana Dharma ist auch die alte, bis heute gebräuchliche Eigenbezeichnung der Hindus für ihre Religion.
Freie Religionswahl eingeschränkt
Tanka Subedi befürchtet das Schlimmste. "Die freie Religionswahl wird durch das Gesetz kriminalisiert und durch die Verfassung verboten, obwohl Nepal zum säkularen Staat erklärt worden ist", sagt der Vorsitzende des Liberalen Forums für Religionsfreiheit in Nepal und Pastor der Family of God-Kirche. "Der Gesetzentwurf gegen Konversionen zielt nicht nur auf die Christen ab. Zudem verbietet er nicht nur Konversionen, sondern auch die freie Ausübung des jeweiligen Glaubens, auch wenn man gar nicht die Absicht hat, andere zu missionieren", fügt Subedi hinzu. Nepals Christen fordern einen Verfassungszusatz mit einer exakten Definition dessen, was mit Sanatana Dharma gemeint ist.
Kritisch äußern sich auch die anderen Minderheitsreligionen. Jikdol Lama, Vorsitzender der Föderation der Buddhisten in Nepal, sprach gegenüber nepalesischen Medien von einem "Rückzug von früheren Versprechungen und Entscheidungen". Najarul Hasan Falahi, Vorsitzender des Dachverbands der nepalesischen Muslime, betonte, ein Staat dürfe nicht eine bestimmte Religion bevorzugen.
Nepal ist ein multiethnisches und multireligiöses Land. Die 31 Millionen Einwohner verteilen sich auf rund 100 ethnische Gruppen indo-arischen und tibeto-birmanesischen Ursprungs. 80 Prozent der Nepalesen sind Hindus, neun Prozent Buddhisten (obgleich Lumpini in Nepal der Geburtsort Buddhas ist) und vier Prozent Muslime. Mit einem Anteil von bescheidenen 1,4 Prozent ist das Christentum die kleinste Religion. Die Mehrheit der Christen gehört protestantischen und evangelikalen Kirchen an.
Die treibende Kraft zur Wiedereinführung des Hinduismus als Staatsreligion sind die hinduistisch-monarchistische Rashtriya Prajatantra Partei-Nepal und der von ihr gestellte stellvertretende Ministerpräsident Kamal Thapa. Die RPP-Nepal ist der politische Arm der rechten hindu-nationalistischen Bewegung Nepals. Dass die radikalen Hindus auch nicht vor Gewalt zurückschrecken, zeigten die Brandanschläge auf vier christliche Kirchen, kaum dass Nepal zum säkularen Staat erklärt worden war.
"Alle Toppolitiker der Parteien sind Hindus"
Der Hang zum Hinduismus ist aber auch weit über die Grenzen der RPP-Nepal lebendig. Der Mitglieder des sozialdemokratischen Nepali Congress, Nepals ältester und größter Partei, gelten laut dem indischen Nachrichtenportal Catchnews als "heimliche Monarchisten, zögerliche Republikaner und religiös". Zudem sind paradoxerweise die hinduistische Priesterschaft und die Brahmanen, die oberste Kaste, wichtige Unterstützer der Kommunistischen Partei Nepals (Vereinigte Marxisten-Leninisten, CPN-UML). Die Kommunisten stellen mit ihrem Parteivorsitzenden Khadga Prasad Sharma Oli derzeit Nepals Premierminister.
"Alle Toppolitiker der Parteien sind Hindus", sagt Reverend Patras Marandi, Generalsekretär der Lutherischen Kirche Nepals. "Sie favorisieren den Hinduismus und unterstützen die Forderung der Hindunationalisten."
Im Kampf für Religionsfreiheit stehen Nepals Christen zusammen. Unter den Katholiken ist Prakash Kadhka, Vertreter der katholischen Pax Romana und prominenter Menschenrechtsaktivist, einer der Wortführer. Kadhka sagt: "Für manche in Nepals Hindumehrheit ist ihre Religion das Herz der Identität des Landes. Nach ihrem Verständnis ist die Erklärung des Säkularismus in der Verfassung eine Bedrohung der Stellung des Hinduismus."
Unterstützung erhalten die nepalesischen Hindunationalisten durch ihre mächtigen Gesinnungsgenossen im Süden, in Indien. Dort regiert seit Mai 2014 Premierminister Narendra Modi von der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Partei (BJP). Seitdem haben in Indien Zwangskonversionen zum Hinduismus sowie Gewalt und Schikane gegen religiöse Minderheiten wie Christen und Muslime durch Hindunationalisten von der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) sprunghaft zugenommen.
"Das ist kein Sturm im Wasserglas"
Der Arm der indischen Hindunationalisten reicht bis nach Nepal. Im vergangenen Herbst protestierten die mehrheitlich hinduistischen Madhesi im südlichen Tiefland Nepals an der Grenze zu Indien gegen die neue Verfassung. Die von den hinduistischen Nepalesen aus dem Hügelland, den Pahari, verachteten und unterdrückten Madhesi fühlen sich durch die Verfassung benachteiligt. Auf die blutige Niederschlagung der Proteste reagierten die Madhesi mit einer mehr als 130 Tage dauernden Grenzblockade, die auch auf indischer Seite unterstützt wurde. Es gelangten so gut wie keine Waren, kein Benzin, kein Gas zum Kochen mehr ins Land. Die fast vollständig von Exporten aus Indien abhängige Wirtschaft Nepals war gelähmt. Indiens Hindunationalisten nutzten die Gunst der Stunde, ihren Einfluss unter den Madhesi auszubauen.
Die neue alte Macht des Hinduismus in Nepal zeigt sich auch in scheinbaren Kleinigkeiten: Weihnachten wurde gerade erst zusammen mit Feiertagen anderer Religionen aus der Liste der offiziellen staatlichen Feiertage gestrichen. Die Kuh, die den Hindus als heilig gilt, bleibt auch im offiziell säkularen Nepal das Nationaltier.
Reverend Marandi sieht das Comeback des Hindunationalismus mit großer Sorge. "Das ist kein Sturm im Wasserglas, sondern eine Gefahr für die Christen in Nepal."