Enver ?im?ek war das erste Opfer der beiden heimtückischen Mörder, aber was seine Familie nach der Tat durchmachen musste, ist fast noch erschütternder: Die Polizei machte das Opfer zum Täter. Theorie Nummer eins: ?im?ek hatte eine Geliebte und ist vom Bruder seiner Frau erschossen worden; die Polizei konfrontierte die Witwe sogar mit einem Foto vor, das angeblich die Freundin zeigte. Theorie Nummer zwei: ?im?ek, der regelmäßig in Holland Blumen kaufte, hat Drogen geschmuggelt und ist von seinen Kumpanen ermordet worden. Als letzte Möglichkeit zogen die Ermittler eine Schutzgelderpressung infrage. Dass der feige Mord einen ausländerfeindlichen Hintergrund haben könnte, ist offenbar nie in Erwägung gezogen worden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Semiya ?im?ek hat alle diese Erfahrungen in ihrem Buch "Schmerzliche Heimat" beschrieben. Züli Aladags Film erzählt ihre Geschichte. Die Ermittler spielen natürlich auch wesentliche Rollen, aber Semiya (Almila Bagriacik) ist das emotionale Zentrum. Aus ihrer Perspektive erzählen Stieler und Alada, wie die Familie mit immer wieder neuen Anschuldigungen gegen den Ehemann und Vater konfrontiert wird und wie die ?im?eks die vor allem von Vorurteilen gesteuerten Ermittlungen der Polizei erleben.
Der Film über die Opfer ist vielleicht der wichtigste Teil der Trilogie: weil sich die Öffentlichkeit vor allem für die Täter interessiert, und weil die Medien vor allem wissen wollen, warum die Behörden derart versagt hat; nun bekommen die Opfer endlich eine Stimme. Außerdem ist er in gleich mehrfacher Hinsicht ein Wagnis: Die Zuschauer schätzen es erfahrungsgemäß nicht besonders, wenn fiktionale Produktionen dem Staat und vor allem der Exekutive ein derart offenkundiges Versagen nachweisen. Mutig ist auch die Wahl der Protagonisten. Mit Ausnahme von Tom Schilling und André Hennicke als empathische Ermittler, die zudem über den Tellerrand hinausschauen, spielen Deutsche nur Randfiguren, während die Hauptdarsteller praktisch unbekannt sind; viele Dialoge sind auf Türkisch. All das unterstreicht jedoch den Vorsatz der Macher, keine faulen Kompromisse einzugehen.
Dazu zählt auch der Verzicht auf jede Spekulativität. "Die Opfer – Vergesst mich nicht" will kein Krimi sein. Deshalb gibt es mit Ausnahme der Ermordung von Enver ?im?ek auch keine Inszenierung der weiteren Taten; Aladag, zu dessen wichtigsten Filmen das aufsehenerregende und vielfach ausgezeichnete Selbstjustizdrama "Wut" gehört, beschränkt sich darauf, die Toten zu zeigen. Auch filmisch haben der Regisseur und sein Kameramann Yoshi Heimrath darauf verzichtet, mit raffinierten Einstellungen von der Geschichte abzulenken. Einzige Ausnahme ist ein mehrfacher Schwenk der Kamera um 360 Grad im Hauptquartier der "Soko Bosprous", der verdeutlicht, wie die Zeit vergeht. Großes Lob gebührt Aladag auch für die Führung seiner Hauptdarstellerin: Almila Bagriacik verkörpert die junge Frau, die im Verlauf der sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Filmhandlung erwachsen (und dabei immer hübscher) wird, in allen Lebensphasen außerordentlich glaubwürdig.