London, Juni 1742. Ein von vielen Seereisen arg mitgenommenes Segelschiff verlässt samt Passagieren und Besatzung mit Ziel Nordamerika den Hafen. Unter ihnen sind zahlreiche Auswanderer auf der Suche nach einem neuen Leben und Religionsfreiheit. Ein großer, starker Mann in schwarzer Predigerkutte ragt aus der Menge heraus. Auch für ihn, den 31 Jahre alten Heinrich Melchior Mühlenberg, ist die riskante Reise über den Atlantik ein Aufbruch ins Ungewisse. Der Pastor, geprägt vom Halleschen Pietismus, ist von Gotthilf August Francke mit einer heiklen Mission betraut worden. Dieser ist damals Direktor der Glauchaschen Anstalten, die unter dem später gewählten Namen Franckesche Stiftungen bekannt sind. Mühlenberg soll die Betreuung der drei deutsch-lutherischen Gemeinden in Philadelphia, New Hanover und Providence übernehmen. Pennsylvania ist damals ein Magnet für deutsche Auswanderer, aber terra incognita, was kirchliche Strukturen angeht. Wilder Westen, auch für Protestanten. Francke hatte ein Notruf per Post erreicht. In den lutherischen Gemeinden rund um Philadelphia gehe es "drunter und drüber. Es braucht eine ordnende Hand." Diese Hand heißt Mühlenberg und ist an Bord.
Die Schiffspassage über den Atlantik erweist sich als äußerst gefährlich. "Das Schiff stöhnt und schreit wie ein Tier unter den Schlägen der heranrasenden meterhohen Wellen. Heute noch wollen sie den erbärmlichen Schiffsleib aus morschem Holz und gebrochenen Segeltuch ihrem Tiefseekönig als Opfer vor die Füße legen." So beschreibt Eberhard Görner in seinem Mühlenberg-Roman "In Gottes eigenem Land" einen besonders heftigen Sturm, der unter den Reisenden Todesängste auslöst. Der auch als Drehbuch-Autor ("Nikolaikirche") bekannte Schriftsteller hat die umfangreichste Korrespondenz eines deutschen Auswanderers nach Nordamerika als Basis für seinen historischen Roman verwendet. Ein eindrucksvolles Porträt des Menschen und Pastors in seiner von Umbrüchen geprägten Zeit.
Er nahm die Gmeindeglieder ernst
Vierzehneinhalb Wochen nach Beginn der Reise landen Crew und Passagiere in Charleston/South Carolina, weit weg vom eigentlichen Ziel. Mühlenberg reist weiter nach Philadelphia. Nach seiner Ankunft dort beginnt er mit der praktischen Umsetzung seiner Mission - eine Kärrnerarbeit. Er kümmert sich um Taufen, Eheschließungen, Sterbehilfe, um die Intensivierung der Seelsorge, die Ausbildung von Pfarrern sowie den Bau neuer Kirchen. Er erlässt eine Kirchenordnung, die später weiteren Kirchengemeinden als Vorbild dient. Er widmet sich dem Aufbau von Institutionen der lutherischen Kirche, die heute noch existieren. Unermüdlich arbeitet er an einem eigenen Gesangbuch, das 1787 im Druck erscheint, ein Jahr vor seinem Tode.
All diese Aktivitäten entwickelt Mühlenberg in enger Abstimmung mit Gotthilf August Francke. Ihre intensive Korrespondenz erweist sich als äußerst notwendig. Sein Aufbauwerk muss er nicht nur gegen die Unbilden der Natur, missliche soziale Verhältnisse, sondern zudem in kräfteraubenden Auseinandersetzungen mit den so verstreuten wie zerstrittenen Lutheranern durchsetzen. Mühlenberg gerät in schwelende Konflikte, exemplarisch in der Gemeinde Raritan/New Jersey. Strittig zwischen dem Kirchenrat und den Gemeindegliedern ist ein elementares Prinzip: Sollen die Kirchenältesten, einmal gewählt, auf Lebenszeit befugt sein, Finanzangelegenheiten zu entscheiden? Der deutsche Reformer bringt die modern denkenden Kräfte in Raritan auf seine Seite. Das neue Denken wird in der von Mühlenberg entworfenen Kirchenverfassung zum Statut. Es überträgt der Gemeinde das Recht, die Ältesten und Kirchenvorsteher nur befristet zu wählen und ihre Angelegenheiten zu kontrollieren.
Müller-Bahlke nennt dies einen "Paradigmenwechsel, eine frühe Form der Demokratisierung im kirchlichen Rahmen". Dieser Wechsel, hebt er hervor, habe bereits eineinhalb Jahrzehnte vor der Gründung des amerikanischen Staates mit seiner demokratischen Verfassung stattgefunden. Die Art, wie er "seine Gemeindeglieder ernstnahm und einbezog, ist bis heute beispielgebend". In den Schoß gefallen ist dem Reformer aus Mitteldeutschland dies allerdings keineswegs. Görner schildert in seinem Buch die vielfältigen Widerstände, gegen die sich Mühlenberg behaupten muss. Vor allem von Seiten religiöser Sekten und autoritär denkender evangelikaler Kreise. Doch Mühlenberg besitzt Stehvermögen und die Rückendeckung aus Halle, sich durchzusetzen. Er etabliert eine kirchliche Struktur eigener Art. "Dabei hat er sich von dogmatischen und amtskirchlichen Strukturen Europas frei gemacht und zum ersten Mal ein von weltlicher Obrigkeit unabhängiges lutherisches Kirchenwesen organisiert", sagt Müller-Bahlke. "Er hat über die engen Grenzen seiner lutherischen Konfession hinweg breite evangelische Kreise angesprochen und miteinander verbunden."
Ist Luthers amerikanischer Pionier, 1754 eingebürgert, nur historisch interessant? So zu denken wäre zu kurz gegriffen, gerade im Themenjahr "Reformation und die Eine Welt". Will es doch ein Bewusstsein für die globale Dimension der Protestantismus zu schaffen. Wer wäre besser als Galionsfigur dieser Weltdimension geeignet als Mühlenberg? War schon das Ereignis von Wittenberg 1517 bedeutender als eine lokale Begebenheit, so ist es dieser Prediger aus den Kernlanden des Protestantismus nicht minder. Dies haben einschlägige Institutionen erkannt. Eine Art transatlantischer Mühlenberg-Renaissance kündigt sich an.
Görners Roman ist die Hauptquelle eines Theaterstücks, das der Autor Olaf Hörbe im Auftrag der Landesbühnen Sachsen schreibt und Damian Cruden vom britischen York Theatre Royal inszenieren wird. Im April 2017 soll es in Radebeul Premiere haben und dann eine ganze Serie weiterer Aufführungen erleben, auch an der US-Ostküste. Gefördert wird das Vorhaben von der Bundesregierung mit mehr als 100.000 Euro. "Der Stoff", sagt Jane Taubert, Veranstaltungskoordinatorin der Landesbühnen, "bietet gute Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit Künstlern, Historikern, Institutionen der Politik und Bildung sowie Kirchenvertretern in Deutschland und den USA." Das Stück werde ein lebendiges Bild von Flucht und Einwanderung, vom Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen und Glaubensgemeinschaften sowie vom Verhältnis staatlicher und kirchlicher Mächte während des Unabhängigkeitskrieges vermitteln.
"Die bestorganisierten Lebewesen der Erde"
Begeistert vom Engagement Mühlenbergs zeigt sich Tomoko Elisabeth Emmerling im Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Halle. Sie verantwortet das Projekt "Here I Stand" – Leitmotto von drei Sonderausstellungen in den USA zu Leben und Wirken Luthers im Kontext der Beziehungen zwischen Deutschland und Amerika. Das vom Auswärtigen Amt ermöglichte Vorhaben in Kooperation von drei Institutionen, darunter der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, entsteht im Zusammenwirken mit Partnerinstituten in Atlanta, Minneapolis und New York. In der Schau an der Pitts Theology Library in Atlanta, berichtet Emmerling, werde ein Schwerpunkt der lutherischen Einwanderung des 18. Jahrhunderts gelten. Dabei solle auch die Strukturierung der deutschen Gemeinden in Pennsylvania durch Mühlenberg gezeigt werden.
Benjamin Franklin, der amerikanische Staatsmann, sagt um 1760 im Parlament von Philadelphia über Mühlenberg: "Ich bewundere ihn. Er hat ganz bewusst einen kopflosen Ameisenhaufen übernommen. Das waren die Lutheraner, bevor er hier ankam." Er sage voraus, wenn sich die Evangelisch-Lutherische Kirche weiter von Mühlenberg führen lasse, werde sie in Nordamerika zur erfolgreichsten Kirche – "so wie die Ameisen die zahlreichsten und bestorganisierten Lebewesen der Erde sind". Ein sehr säkulares Bild, aber aus heutiger Sicht eines von großer Prognosekraft.