Das Parlament von Myanmar hat Henry Van Thio zum Vizepräsidenten gewählt. Mit der überraschenden Nominierung des bis dato unbekannten Politikers erweist Aung San Suu Kyi den vielen ethnischen Minderheiten als auch religiösen Minderheiten ihre Referenz. Henry Van Thio ist Christ und zudem ein Sprössling der Chin, einem mehrheitlich christlichen Volk im Chin-Staat im Westen Myanmars. Ein Christ in der Staatsführung eines südostasiatischen Staates ist eine kleine Sensation.
Zusammen mit dem künftigen Präsidenten Htin Kyaw, 69, und Myint Swe, einem weiteren Vizepräsidenten, wird Henry Van Thio am ersten April sein Amt antreten. Das "Dreigestirn" verkörpert die Zerrissenheit Myanmars. Htin Kyaw ist ein Präsident und Henry Van Thio ein Vizepräsident von Aung San Suu Kyis Gnaden, während Myint Swe ein Hardliner der Armee ist. Die Verfassung garantiert dem Militär auch im Myanmar des demokratischen Übergangs eine zentrale Machtposition in Parlament und Regierung.
Aung San Suu Kyi durfte selbst als Mutter von zwei Söhnen mit britischen Pässen nicht Präsidentin werden. Die Verfassung schließt Birmanen mit ausländischer Verwandtschaft vom höchsten Staatsamt aus. Also hievte die als "Demokratieikone" gefeierte 70-jährige ihren langjährigen Vertrauten Htin Kyaw auf den Präsidentenposten und verkündete: "Ich stehe über dem Präsidenten."
Als Mann des Militärs unterstehen laut Verfassung dem Hardliner Myint Swe die für die Sicherheit zuständigen Ministerien Inneres, Grenzschutz und Verteidigung. Mit den Instrumenten der Unterdrückung von Minderheiten und Andersdenkenden ist der 64-jährige bestens vertraut. 2007 ließ er als Kommandeur des Militärbezirks Yangon den Aufstand der buddhistischen Mönche gegen die damalige Militärdiktatur seines Mentors General Than Shwe blutig niederschlagen.
Ein Vizepräsident als reine Symbolpolitik
Der Dritte und mit 57 Jahren Jüngste im Bunde ist der ehemalige Armee-Major Henry Van Thio. Über den verheirateten Vater von drei Kindern ist auch nach seiner Wahl wenig bekannt. "Sie werden von jedem meiner vielen Chin-Bekannten dieselbe Antwort bekommen: Eine Super-Wahl und ein Zeichen der Versöhnung, vor allem mit dem Militär – denn der Kandidat hat gedient und die Chin gehörten zu den "martial races", die nicht nur die Briten sehr geschätzt haben", berichtet der Theologe und Buddhismus- und Myanmarexperte der Universität Bonn, Hans-Bernd Zöllner. "Ansonsten scheint Henry aus der Pfingstbewegung zu kommen, was ihn aus der Sicht der etablierten Kirchen, die im MCC (Anm. d. Red.: Myanmar Council of Churches, Dachverband der evangelischen Kirchen) zusammengeschlossen sind, ein wenig verdächtig machen müsste. Aber das wird keiner offen sagen. Kurz: Wir haben es hier meines Erachtens mit reiner Symbolpolitik zu tun – aber das ist in Myanmar speziell bei Aung San Suu Kyi und ihrer NLD (Nationale Liga für Demokratie) eher die Regel als die Ausnahme."
Myanmar ist seit über eintausend Jahren ein mehrheitlich buddhistisches Land. 89 Prozent des 51 Millionen Einwohner und 130 Ethnien zählenden Landes bekennen sich zum Theravada-Buddhismus, fünf Prozent zum Christentum, vier Prozent zum Islam und je ein Prozent sind Hindus und Animisten. Unter den Christen gehören fast 90 Prozent protestantischen Kirchen an.
Eine giftige Rezeptur für weitere Jahrzehnte des Konflikts
Bei der Religionsfreiheit bietet Myanmar kein einheitliches Bild. Seit einigen Jahren betreibt die einflussreiche Mönchsorganisation "Ma Ba Tha" eine Hass- und Gewaltkampagne gegen Muslime. Über Christen heißt es im neuesten Bericht über Religionsfreiheit des US-Außenministeriums: "In vorwiegend christlichen Gebieten wie Chin und Kachin dauern diskriminierende Praktiken an."
Die vier "Rasse- und Religionsgesetze" schränken die Rechte von religiösen Minderheiten ein. Sie haben unter anderem die Eindämmung des Geburtenwachstums von Nicht-Buddhisten sowie die Einschränkung von Eheschließungen zwischen Andersgläubigen und Buddhisten zum Ziel. Die "schwarzen Gesetze", wie Kardinal Charles Bo in Yangon sie nennt, sind in erster Linie gegen Muslime gerichtet, können aber jederzeit zur Unterdrückung anderer Religionen benutzt werden.
Ein anderer christlicher Hotspot mit vielen Problemen ist Kachin. Im mehrheitlich christlichen Teilstaat im Nordosten von Myanmar tobt ein Bürgerkrieg. Ethnische Gruppen werfen Myanmars scheidender Regierung von Präsident Thein Sein vor, mit der 2011 begonnenen Militäroffensive gegen die Rebellen der "Kachin Independence Organisation" ausländische Interessen zu schützen.
Baptisten zerstören Mohnfelder
Gemeint ist China, das Milliarden in Megaprojekte wie Dämme, Pipelines und Bergbau investiert hat. Hinzu kommen gigantische Mohnplantagen für die Opiumproduktion. Myanmar ist nach Afghanistan der zweitgrößte Opiumproduzent der Welt. Bürgerkrieg, Gesetzlosigkeit und Drogen lassen in Kachin die Prostitution blühen, der Drogenkonsum hat epidemische Ausmaße angenommen und HIV/Aids in der Folge ebenso.
In dieser Situation haben Christen der in Kachin dominierenden Baptisten zur Selbsthilfe gegriffen und sich bei der Staatsmacht unbeliebt gemacht. Seit zwei Jahren zerstören Stoßtrupps der nach eigenen Angaben 100.000 Mitglieder zählenden Bewegung "Pat Jasan" Mohnfelder. Die "Pat Jasan"-Bürgerwehr wird bei ihrem Feldzug gegen Drogen ihrerseits Ziel von Gegenangriffen. Mal sind es Milizen der Drogenbarone, mal Einheiten der Armee oder der Polizei Myanmars, mal die Rebellen der KIO, die auf die baptistischen Antidrogenkämpfer schießen. Armee, Polizei und Rebellen stehen in dem Verdacht, von den Opiumbauern "Steuern" zu kassieren.
Ende Februar setzte "Pat Jasan" zunächst die Zerstörung der Mohnfelder aus. "Wir wollen unnötige Probleme mitten in der politischen Übergangsperiode vermeiden. Deshalb haben wir die Aktionen bis auf weiteres eingestellt", sagte Hkalam Samson, Generalsekretär der Kachin Baptist Convention, gegenüber Medien in Myanmar. Frieden mit den ethnischen Völkern schaffen, Kampf gegen Drogen und Versöhnung zwischen den Religionen – die Arbeitsplatzbeschreibung von Henry Van Thio verspricht einen spannenden Job.