Aus dem beschaulichen Städtchen Dassel führt die "Erholungsheimstraße" durch den Wald hinauf zum Haus Solling. "Erholung", ja, das passt: Von hier oben geht der Blick weit über das Weserbergland, frische Luft füllt Lunge und Seele. Es gibt Waldwege, einen Sportplatz, Spielgeräte. Dass das Haus Solling ein christliches Haus ist, bleibt dem Besucher auch nicht lange verborgen: An einem kleinen Türmchen auf dem Dach steht groß JESUS dran – der Schriftzug ist Bekenntnis und Programm zugleich.
Begonnen hatte alles mit einem Anruf bei Hausleiter Gerald Stehrenberg: Es war das niedersächsische Innenministerium. Ob man sich im Haus Solling vorstellen könne, Flüchtlinge aus dem überfüllten Grenzdurchgangslager Friedland aufzufangen – für ein bis zwei Jahre. "Ich konnte mir sehr schnell vorstellen, dass wir das können und dass wir das auch sollten", blickt Gerald Stehrenberg bei einer Tasse Kaffee zurück. Zum einen wegen des "C" in CVJM, der "Christliche Verein Junger Menschen" sollte Menschen in Not schon allein aus Nächstenliebe beherbergen. Aber auch aus betriebswirtschaftlichen Gründen: Das Haus war nicht ausgelastet. Eine Vollbelegung – vielleicht bis Ende 2017 – erschien Stehrenberg vernünftig.
"Eine wahnsinnige Herausforderung am Anfang"
"Wir haben jetzt etwas vor die Füße gelegt bekommen, und wir können das als Team stemmen", das hat der 59-jährige Hausleiter gegenüber dem Vorstand des CVJM-Gesamtverbandes "so deutlich vertreten, wie ich konnte". Der Vorstand prüfte den Vorschlag und sagte aus voller Überzeugung und tiefstem Herzen "Ja" zur Umwidmung des Gästehauses. Daraufhin musste das Team im Haus Solling die Tagungsgäste, die schon gebucht hatten, wieder ausladen, zum Beispiel 250 Konfis aus der Umgebung. "Das sind Stammgäste, das tat mir schon weh", sagt Stehrenberg. Viele Ausgeladene hätten aber auch gesagt: "Wir haben Verständnis dafür, das ist eine gute Arbeit, die ihr macht und wir beglückwünschen euch zu dem Mut, den ihr habt." Das tat gut.
Mit 40 Festangestellten – zehn mehr als zuvor – ging das Team Solling die neue Aufgabe an, besuchte zur Vorbereitung andere Erstaufnahmeeinrichtungen und sprach mit der Polizei. Die Sozialarbeiter vom Christlichen Jugenddorfwerk (CJD) erstellten ein pädagogisches Konzept, Doppelzimmer wurden zu Vier- oder Fünfbettzimmern umgebaut, der Sicherheitsdienst teilte seine Schichten ein. Mit einem Gottesdienst, initiiert von CVJM-Präses Karl-Heinz Stengel, wurde das gesamte Team Ende November ausgesandt. "Eine sehr schöne Geste vom CVJM", findet Gerald Stehrenberg.
Dann kamen die ersten Flüchtlinge aus Friedland an. "Ich kann mich an den ersten Bus erinnern", erzählt Sozialarbeiter Thorsten Schoppe, "da haben wir hier von der Putzfrau bis zum Chef noch Spalier gestanden, um die Leute zu empfangen, und beim dritten Bus konnten nur noch wenige da stehen, weil alle beschäftigt waren." Hier musste jemand gezeigt bekommen, wie man ein deutsches Bett bezieht, da brauchte jemand eine Windel fürs Baby oder eine Kopfschmerztablette – tausend Kleinigkeiten. "Es war für alle erstmal eine wahnsinnige Herausforderung am Anfang", sagt Schoppe. "Der Ablauf war nicht so reibungslos, wie ich mir das vielleicht gewünscht hätte." Seine Kollegin Birgit Kandzorra strahlt, wenn sie an die ersten Tage denkt: "Als ob wir Bäume ausgerissen hätten, so haben wir uns gefühlt."
Mit den Fachleuten vom CJD arbeitet der CVJM gern zusammen, weil sie pädagogisches Know-How mitbringen. Kinderbetreuung, Deutschkurse, Sport, das hatten sie sich vorher überlegt – übrigens mit deutlich mehr Mitarbeitern wie vom Land Niedersachsen vorgesehen. "Die Idee war vor allem die Beschäftigung der Flüchtlinge", erklärt Sozialarbeiterin Cinthia Herbst, "aber erstmal die grundlegenden Dinge zu regeln, das stand nicht so in der Konzeption." Viel Zeit ging drauf für Einzelbetreuung und Kontakt zu den Ämtern. So sah Birgit Kandzorra drei Flüchtlingsfrauen an, dass sie mehr als nur besorgt waren, und organisierte Psychotherapie-Termine in der Uni-Klinik Göttingen. "Die sind jetzt mittendrin im Leben, gehen mit zum Tanzen", freut sich Birgit Kandzorra: "Es ist so schön zu sehen, dass sie Vertrauen schöpfen, dass ihnen hier nichts passiert, dass sie keine Angst haben müssen." Cinthia Herbst nickt: "Auffangen und Geborgenheit vermitteln, das ist ganz wichtig."
Turbulenzen im Speisesaal: Die Eier reichten nicht
Und Regeln sind wichtig. Was geht und was nicht? Gewalt ist tabu, Alkohol auch, Rauchen bitte nur in der Raucherhütte. "Sie brauchen klare Anweisungen, damit sie das auch befolgen können", sagt der Sicherheitsbeauftragte Björn Schwiemann. Rund um die Uhr schauen Wachleute nach dem Rechten. Nicht schlecht gestaunt haben die Männer, als Flüchtlinge auf die Idee gekommen waren, mit Bunsenbrennern auf den Zimmern ihr eigenes Essen zu kochen. "Das ist, wie wenn wir in den Urlaub fahren, wir müssen uns natürlich auch erstmal an das fremde Essen gewöhnen", erklärt Schwiemann, der – bei allem Verständnis – das gefährliche Hantieren mit Feuer natürlich nicht dulden kann.
Gerald Stehrenberg ist die Sache mit dem Essen pragmatisch angegangen und hat die Araber gebeten, ihre Lieblingsgerichte aufzuschreiben. Die Küche tut, was sie kann: "Bulgur, Couscous und so weiter, viel Olivenöl, kein Schwein, nur Geflügel und Rind", zählt Koch Siegfried Peter beim Zwiebelschälen auf – er mag selbst auch gern orientalische Gerichte. Der Hausleiter sagt: "Wir sind dabei, immer wieder dazuzulernen, was Neues auszuprobieren, so dass ich meine: Wir steigern uns." Nicht nur arabische Gewürze mussten sie kennenlernen, sondern auch einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit: Einmal gab es beinahe eine Meuterei, weil abends rund 40 Rest-Eier vom Frühstück hingestellt wurden. "Das heißt, in der Mitte der Schlange war schon abzusehen, dass die Eier nicht reichen", erzählt Gerald Stehrenberg, "und das hat dann für solche Turbulenzen gesorgt, dass ich eingreifen musste." Seine Konsequenz: "Wenn wir ein Gericht anbieten, muss es so ausreichend vorgehalten werden, dass wirklich der letzte dasselbe bekommt wie der erste." Mittlerweile ist im Speisesaal Ruhe eingekehrt.
"Es gibt noch einen größeren Vater, und das ist Gott"
Eine große Hilfe – nicht nur in der Küche – ist Ali Kamal Shukur, spezieller Mitarbeiter für das Verstehen der Gäste. Shukur stammt aus dem Irak und ist Muslim, er spricht Hocharabisch plus mehrere Dialekte, etwas Kurdisch und ein paar Worte Persisch. Oft wird Shukur zum Dolmetschen dazugerufen, wie zum Beispiel bei einem Streit zwischen zwei arabischen Männern, der mit einer Beleidigung angefangen und sich zu einer Ohrfeige gesteigert hatte. "Manchmal, so sagen wir bei uns, kommt der Teufel dazwischen, dann passiert sowas", sagt Ali Shukur. Die Polizei wurde gerufen, und Gerald Stehrenberg erzählt mit Genuss, wie es weiterging: "Kannst du dir vorstellen, dass du dich einfach entschuldigst?", habe er einem der Kontrahenten vorgeschlagen. Nach einer Zigarette war der andere bereit, die Entschuldigung anzunehmen. "Dann haben sie sich die Hand gereicht. Und dann kam das Sahnehäubchen, als der Ali sagte: 'Jetzt gehen die beiden nach draußen zu den anderen Arabern', die das natürlich total registriert hatten. Vor allen haben sie sich dann umarmt, und die Polizisten – die waren ja noch mit uns drin – hörten dann einen tosenden Applaus." Gerald Stehrenberg ist ein bisschen stolz: "Die Situation war geklärt, mustergültig, das hat mich richtig froh gemacht."
Friedlich miteinander umzugehen – das mussten auch einige Kinder im Haus Solling erst lernen. Cinthia Herbst berichtet, dass Araber und Afghanen sich bei Kreisspielen erst nicht anfassen wollten. "Wir haben immer wieder gesagt: 'Jeder Mensch ist gut.' Jetzt spielen sie miteinander." Und wollen gar nicht aufhören zu lernen: "Januar, Februar, März, April", singen Riad, Maria, Hani und Joan im Deutschkurs, "die Jahresuhr steht niemals still." Vokabeln prägen sie sich mit kleinen Pappmotiven ein, erkennen "Fisch" und ergänzen "schwimmt", wissen, was eine Zitrone ist und dass die "sauer" schmeckt. "Nochmal", ruft die kleine Yasme lachend, als sie mit den Pappwörtern durch sind.
Die älteren Kinder wollen unbedingt auch schreiben lernen und gehen deshalb freiwillig in die Sprachkurse für Erwachsene. "Ich schreibe, du schreibst, wir schreiben", konjugiert Amina. Birgit Kandzorra schreibt Verben an die Tafel und korrigiert die Aussprache. Vor allem das weiche "ch" bereitet Probleme, aber Kandzorra macht mit ihrem Beispielsatz Mut: "Ihr sprecht bald richtig super Deutsch."
Immer an der Seite der Sozialarbeiterin: Das Mädchen Kiria aus dem Irak. Mit zwei Schwestern und dem großen Bruder ist sie gekommen, die Eltern stecken in der Türkei fest. Kiria will nicht mitmachen, weder beim Spielen noch im Deutschkurs, sie schaut stattdessen traurig aus dem Fenster. Birgit Kandzorra nimmt die 12-Jährige an die Hand, gibt ihr kleine Aufgaben – Türen aufschließen, Arbeitsblätter verteilen. Doch irgendwann will Kiria lieber allein sein und setzt sich auf ein Sofa im Flur.
Abdallah Alsayed weiß, wie sich das anfühlt, von den Eltern getrennt zu sein. Er stammt aus dem Libanon, hörte im nahen Syrien Bomben fallen, floh mit seinem Bruder Abdelrahman. In Deutschland will der 20-Jährige Maschinenbau studieren, im Libanon sei die Lage zu unsicher. "Ich habe viel Heimweh", sagt Abdallah. Weil er daheim schon einen Deutschkurs beim Goethe-Institut gemacht hat, kann auch er den Mitarbeitern im Haus Solling – das er tatsächlich schon sein "Zuhause" nennt – oft helfen.
Bei einer Mittagsandacht bittet Gerald Stehrenberg Abdallah, ins Arabische zu übersetzen. "Christen glauben, dass Gott ein Vater ist", beginnt Stehrenberg. "Wir glauben, dass wir durch Jesus Christus direkt die Vaterliebe Gottes erfahren können. Ich wünsche euch allen, dass ihr einen leibhaften Vater habt, der euch liebt. Aber es gibt noch einen größeren Vater, und das ist Gott." Dann singt der Hausleiter CVJM-Lieder wie "Vater, deine Liebe" und begleitet sich selbst auf einer Laute. Die muslimischen Zuhörer filmen die Andacht mit ihren Smartphones. Diese Woche reisen sie ab, werden auf Kommunen in Niedersachsen verteilt. "Ich bitte dich um deinen Segen für jeden einzeln, der das Haus verlässt", betet Gerald Stehrenberg zu Gott, "dass er hier etwas mitnimmt in einem Rucksack des Lebens, etwas, was auch mit dir und mit Vergebung, mit Freude, mit Frieden zu tun hat."