Der Brief sprach Bände. Die Mitglieder des Konvents der Kirchengemeinde Bremen-Vegesack sollten doch bitte überlegen, ob sie einen Posten im Vorstand übernehmen könnten. Noch besser: Es gibt gleich drei neue Kirchenvorsteherposten zu vergeben, die der so genannten Bauherren. Findet sich niemand, müsse die Kirchenkanzlei das Ruder übernehmen, bis sich neue Vorstandsmitglieder und Bauherren gefunden hätten. Diese mahnenden Worte schrieben die damals noch in Amt und Würden befindlichen drei Bauherren im Herbst 2014. Doch ihr Entschluss zum Ausstieg stand fest. Von ihnen ist niemand wieder angetreten.
Am Ende ist die Gemeinde ist mit einem blauen Auge davongekommen, hat sich doch ein arbeitsfähiger Vorstand zusammengefunden. Aber glücklich ist Pastor Volker Keller mit der Situation nicht. Denn einen obersten Vorsteher, den Verwaltenden Bauherren, gibt es immer noch nicht. Diesen Posten bekleidet Keller notgedrungen – mit Ausnahmegenehmigung der Bremischen Evangelischen Kirche (BEK). Diese Ausnahme kann schnell zur Regel werden, denn ein Interessent für den Posten des Verwaltenden Bauherren ist nirgendwo in Sicht.
Weniger Menschen wollen in den Kirchenvorstand
Die Bremer sind in gewisser Weise Vorreiter einer sich abzeichnenden Entwicklung in allen Gemeinden innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Menschen, die bereit sind, sich als Kirchenvorstand zu engagieren, finden sich immer schwerer. Zwar gibt es regionale Unterschiede, doch die generelle Tendenz ist überall die gleiche. Die Anzahl derer, die sich in einem Gremium über mehrere Jahre binden möchten, nimmt ab. Bei den Lutheranern genauso wie bei den Reformierten. Wo es in den vergangenen Jahren bislang noch gelungen ist, alle Posten zu besetzten, haben die Gemeinden aus dem eigenen Bestand geschöpft. Soll heißen: Quer- oder Späteinsteiger sind fehl am Platze.
Den aktuellen Trend haben viele Gemeinden in der westfälischen, rheinischen und lippischen Landeskirche mit voller Wucht abbekommen. Dort sollten eigentlich am 14. Februar die Kirchenvorstände, die dort Presbyterien heißen, neu gewählt werden. "Doch die Realität sah anders aus", meldet der evangelische Informationsdienst "idea". Weil die Kandidaten fehlten, seien die Wahlen schlichtweg abgesagt worden.
Allein im Rheinland gehe man Hochrechnungen zufolge davon aus, dass in etwa 60 Prozent der Wahlbezirke keine Abstimmung zustande gekommen sei. Weiter schreibt "idea": "In Westfalen mussten in 397 von 501 Gemeinden die Mitglieder keinen Gang zur Wahlurne antreten. Noch gravierender ist die Situation in Lippe: In 67 von 69 Gemeinden wurde nicht gewählt."
Das alles hat Pfarrer Uwe Binder hautnah miterlebt. Er ist für die beiden Gemeinden Schauren-Kampsfeld-Bruchweiler und Wirschweiler-Allensbach-Sensweiler in der Evangelischen Kirche im Rheinland zuständig; in ersterer habe der Urnengang stattgefunden, in letzterer nicht. Dort seien zwei Presbyter ausgestiegen, die Nachrücker seien berufen worden. "Es wird deutlich schwieriger", sagt Binder, wenn er auf die allgemeine Entwicklung blickt. Ähnliches erlebt die reformierte Landeskirche mit ihren über ganz Deutschland verstreuten Mitgliedsgemeinden. Nach Auskunft von Sprecher Ulf Preuss sind die Presbyterien bei den Wahlen im Herbst 2015 zu zwei Drittel durch sogenannte Einheitslisten besetzt worden. "Für acht Plätze gab es acht Bewerber", fasst Preuss das Dilemma in Zahlen.
In anderen Landeskirchen ist die Lage besser. Bei den jüngsten Wahlen im Jahr 2013 in den 1.500 Gemeinden innerhalb der evangelisch-lutherischen Landeskirche etwa traten 17.500 Kandidaten an. Zu wählen waren indes nur 12.500 Kirchenvorsteher, davon 4.700 neue. Diese Richtung bestätigt Thomas Lichteneber, Pfarrer und Gemeindekirchenrats-Vorsitzender der Gemeinde Garmisch-Grainau, im Großen und Ganzen – wenn es teilweise auch "grenzwertig" gewesen sei, Kandidaten zu finden.
Menschen wollen sich nicht zeitlich binden
Selbst im säkularen Sachsen sind laut Matthias Oelke, Sprecher des Evangelisch-Lutherischen Kirchenamtes, meistens genügend Kandidaten für alle Plätze vorhanden. So auch bei der Wahl vor zwei Jahren. In Sachsen ist nach Überzeugung von Pfarrer Gunter Odrich von der Gemeinde Riesa weniger die Kandidatenfindung das Problem. Die Ortsgemeinden hätten vielmehr mit der geringen Wahlbeteiligung von rund fünf Prozent zu kämpfen. Dies bestätigt Odrich Kollege Thoralf Spieß, von der reformierten Gemeinde Chemnitz-Zwickau. Zum Vergleich: Im EKD-Durchschnitt beteiligen sich 15 Prozent der Gemeindeglieder an den Wahlen, in Bayern gar 20 Prozent.
Die Gründe für die zunehmende Enthaltsamkeit in Sachen Gemeindeamt sind für die Verantwortlichen in den Kirchenleitungen und den Ortsgemeinden klar: Die Menschen möchten sich zeitlich nicht mehr so binden wie einst. "Projekte sind interessant", sagt der Bremer Volker Keller. Damit hätten aber nicht nur die Kirchen, sondern auch Vereine und Parteien zu kämpfen. Er sieht überdies eine "Entgeistlichung in Europa von den Faröen bis nach Italien".
Das allein scheint es hingegen nicht zu sein. So beklagen laut "idea" die Presbyter in den Landeskirchen Westfalens, des Rheinlandes und Lippe, dass sie zu wenig mitbestimmen könnten. "Immer mehr Entscheidungen würden auf der mittleren Ebene – dem Kirchenkreis – gefällt. Bemängelt wird, dass die frei verfügbaren Kirchensteuern geringer werden und das Presbyterium kaum noch eigene Schwerpunkte setzen könne", meldet der Nachrichtendienst. Der Bayer Lichteneber formuliert es anders: Die Gemeinden müssten aufpassen, dass die Kirchenvorstände nicht zum "Helferkreis" degradiert werden. Die Mitglieder müssten nicht nach jedem Fest das Geschirr wegräumen, vielmehr müssten sie sich ihrer Leitungsfunktion bewusst sein.
"Mitarbeit im Kirchenvorstand ist eine geistliche Aufgabe"
"Die Mitarbeit im Kirchenvorstand ist eine geistliche Aufgabe", sagt Lichteneber. Genau zu diesem Ergebnis kommt eine Ehrenamtsuntersuchung des Instituts für Praxisforschung und Evaluation der Evangelischen Hochschule Nürnberg im Auftrag des Amtes für Gemeindedienst der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Bayern. Danach arbeiten 59,4 Prozent der Menschen in den Kirchenvorstand wegen der Religiösität und Spiritualität mit. Immerhin 54,7 Prozent möchten die Kirche verändern.
Die nächste Runde von Gremienwahlen zeichnet sich bereits ab. Sie stehen im November in der Nordkirche auf dem Programm. Damit sich das alles nicht auch dort zu einem Desaster auswächst, haben sich die Verantwortlichen die Kampagne "Mitstimmen" ausgedacht. Im Internet können sich Interessierte unter www.nordkirche.de/mitstimmen entweder informieren oder gleich als Kandidaten registrieren lassen. "Das läuft ganz gut", sagt Sprecher Jürgen Möller.
Ihm dürfte es gehen, wie vielen Menschen, die sich über die Zukunft der evangelischen Kirche Gedanken machen. Sie wünschen sich neue Engagierte von außen. "Diese Menschen könnten Impulse bringen, die uns täglich fehlen", ist der Riesaer Odrich überzeugt. Pfarrer Martin Simon, beim Amt für Gemeindedienst der lutherischen Kirche in Bayern für die Kirchenvorstandsarbeit zuständig, findet: "Die Leute in den Gemeinden müssen mehr um die Ecke denken." Dann könnte vielleicht das eintreten, was Simon Froben, Präses des Synodalverbandes 11 der reformierten Landeskirche, auf den Punkt bringt: "Die Kirchenmauern sind manchmal gar nicht so dick, wie sie uns von innen heraus erscheinen."