Kermani plädiert in konfliktreicher Gesellschaft für einen starken Staat
Der Schriftsteller Navid Kermani setzt in der Flüchtlingspolitik auf eine starke Staatsmacht.
22.02.2016
epd
Wiebke Rannenberg (epd-Gespräch)

München (epd)Gerade eine Gesellschaft mit Konflikten "ist angewiesen auf einen neutralen und starken Staat, der das staatliche Gewaltmonopol durchsetzen kann", sagte Kermani dem Evangelischen Pressedienst (epd). Gemeinschaften wie Deutschland mit vielen unterschiedlichen Kulturen seien "bei aller Vitalität, bei allem kulturellem Zugewinn per se auch konfliktreiche Gesellschaften", sagte Kermani. Er bezog sich auf die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht in Köln und die islamistische Gefahr ebenso wie auf Anschläge gegen Flüchtlingsheime und Ausschreitungen bei fremdenfeindlichen Hogesa-Protesten in Köln.

Europäische Lösung

Im Unterschied zu konservativen Parteien stellt der 48-Jährige die politische Freiheit in den Mittelpunkt. "Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit. Aber ohne Freiheit ist alle Sicherheit nichts", sagte der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Deshalb müsse "gerade die Linke" für die Stärkung staatlicher Leistungen plädieren, das gelte nicht nur für Wasser und Strom, sondern auch für die Polizei. Mit Blick auf die gewaltsamen Übergriffe auf Frauen sagte der Kölner Kermani: "Es leuchtet unmittelbar ein, was in der Silvesternacht in Köln geholfen hätte: nicht eine bessere Durchleuchtung der Bürger, sondern eine stärkere Präsenz der Polizei."

Insgesamt muss für den Umgang mit den Flüchtlingen nach Ansicht Kermanis eine europäische Lösung gefunden werden. "Wir klagen Europa an, aber sehen nicht, dass es der Nationalstaat ist, der in der Flüchtlingspolitik spektakulär scheitert", sagte der Orientalist, der für sein neues Buch "Einbruch der Wirklichkeit" Ende September 2015 auf der Flüchtlingsroute durch Europa gereist war und mit Flüchtlingen, Helfern, Einheimischen und Politikern gesprochen hatte.

Selbst nachdenken

Auch eine deutsche Obergrenze bei den Flüchtlingszahlen hält Kermani für nicht durchsetzbar: "Wie soll das gehen? Einen Zaun rund um Deutschland errichten? Und was, wenn sich Flüchtlinge nicht an die Absperrung halten? Schießbefehl? Bisher ist kein praktikabler Vorschlag für eine nationale Lösung aufgetaucht." Nur eine Trennung zwischen Einwanderung und Asyl könne "den Druck der illegalen Einwanderung so weit reduzieren, dass sie beherrschbar wird".

Zugleich legt Kermani Wert darauf, dass er Schriftsteller und kein Politiker sei, "weil ich nicht die Kompetenz habe, zu sagen, wie es laufen soll". Er beschreibe Situationen, "die komplex und nicht eindeutig sind", der Leser solle selbst nachdenken. So verteidigt Kermani die Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vom September 2015, als sie für die auf einer ungarischen Autobahn gestrandeten Flüchtlinge die deutschen Grenze öffnen ließ. Zugleich beschreibe er die Folgen: Es hätten sich Menschen auf den Weg gemacht, "die so gut wie keine Perspektive in Europa haben, die selbst enttäuscht werden, aber auch Enttäuschung hervorrufen werden".