Essen (epd)Ein Rollenspiel über den Alltag, irgendwo in Deutschland: "Wo ist deine Schwester?", schreit der Vater. "Ich weiß nicht, Baba", erwidert der Sohn und bekommt eine Ohrfeige. "Sie treibt sich rum, ohne dass du aufpasst? Sofort holst du sie!" Der Sohn gehorcht, ruft einen Freund an, der die Schwester auch gesehen hat - mit Freundinnen am Marktplatz.
"Komm nach Hause, Baba ist sauer", spricht er sie an. Sie will nicht, sagt, dass sie gerade erst gekommen sei. Der Freund greift ein: "Du lässt sie so mit dir reden? Sie ist ein Mädchen, Mann, hast du keine Ehre?" Danach packt der Junge die Schwester am Handgelenk und reißt sie mit sich. Nur ein szenisches Spiel, doch so könnte sich die Geschichte in Wahrheit tatsächlich abspielen.
Mustafa El-Chami rückt sein Käppi wieder gerade. Der 20-jährige Gesamtschüler aus dem Duisburger Einwandererstadtteil Marxloh war gerade noch Vater und Freund im Rollenspiel. Jetzt schaut er in die Gesichter von Essener Neuntklässlern: "Yo, Leute, Ehre gerettet? Oder seht ihr Opfer in der Geschichte?", fragt er in die Runde. Zusammen mit seinem Cousin Yusef Chahin und Sozialarbeiter Selim Asar ist er für das Projekt "Heroes" in die Klasse 9c des Gymnasiums Nordost gekommen.
Werbung für Gleichberechtigung
"Unterdrückung im Namen der Ehre" ist das Thema, das die jungen Männer in die Klassenzimmer holen, in denen wie hier im Essener Norden viele Jungen und Mädchen sitzen, deren Familien aus Ländern kommen, in denen die Geschlechterrollen traditionell sehr ungleich sind. Für Gleichberechtigung wollen sie hier werben, Geschlechterrollen aufzeigen - und diskutieren.
Das Projekt startete der Berliner Verein "Strohhalm" 2007 - als damals einziges Angebot zum Thema, das sich an die Jungen aus Einwandererfamilien richtet. "Die Ehrvorstellungen zwingt ja auch Jungen in Rollen, die sie nicht selbst wählen", erklärt Selim Asar, der in Duisburg "Heroes" ausbildet.
Inzwischen gibt es in sieben Städten Gruppen nach dem Berliner Vorbild: Jungen aus einer Ehrenkultur lassen sich zu Heroes - Helden im Sinne von Vorbild - ausbilden und geben ihre Haltungen in Workshops an andere Jugendliche weiter, ganz hautnah und auf Augenhöhe.
Rollenspiel entlarvt die Unterdrückung im Alltag
Wie Yusef und Mustafa, die ein Jahr lang in ihrer Freizeit im Duisburger Jugendzentrum Zitrone erst kontrovers über Ehre, Familie und Religion diskutierten und dann Rollenspiele und Moderationen entwickelten, die Unterdrückung durch Ehre im Alltag entlarven.
"Damit sind wir auch der eigenen Familie angeeckt", sagt Mustafa, dessen Familie aus Palästina kommt. "Einige haben es als Verrat an unser Kultur aufgefasst und vor allem haben wir ja auch Dinge im Familienalltag anders gemacht." Doch inzwischen seien die Eltern stolz auf den Einsatz ihrer Söhne.
"Der Sohn ist Opfer", sagt jetzt der erste Junge aus der 9c: "Der Vater schlägt ihn, um Respekt einzufordern, aber er gehorcht aus Angst, das ist kein echter Respekt." Zustimmendes Gemurmel. "Aber er hat dann selbst die Schwester genauso behandelt, sie ist auch Opfer", kritisiert ein Mädchen. "Weil der Freund ihn aufgehetzt hat, erst hat der ja normal mit ihr gesprochen", sagt ein anderer.
So geht Beschützen nicht, finden alle. Aber: "Wovor muss die eigentlich beschützt werden, ist sie in Gefahr da mit Freundinnen mitten in der Stadt", fragt jetzt Yusef. "Warum wollen der Vater und der Freund, dass sie so behandelt wird? Und warum muss das eigentlich der Bruder machen, der hatte vielleicht gerade was anderes vor? "
"Wir wollen etwas verändern"
Fragen, die viele Jugendliche im Alltag mit "das ist halt so" beantworten. "Das wollen wir verändern", sagt Sozialarbeiter Asar. In der 9c nehmen die Schüler die Motive und Vorstellungen Stück für Stück auseinander. Die Leute könnten denken, dass die Schwester keine Jungfrau mehr ist, wenn sie alleine abends draußen ist. Und dann "ist die ganze Familie beschämt." Warum eigentlich und warum gilt das nicht für Jungen?
"Ich hatte vier Weiber am Wochenende, ich bin krass cool", sagt Yusef. "Und ich hatte vier Typen, ich bin eine..." Die Schüler lachen, murmeln den Satz für sich zu Ende. "Ihr wisst, was ich meine: gerecht ist das nicht", sagt Mustafa. Und schon Gerede könne für Mädchen gefährlich werden, "im Namen der Ehre wird im schlimmsten Fall gemordet."