Monatelange Flucht, Krieg, Unsicherheit und Einsamkeit – wer als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling in Deutschland ankommt, hat fast immer traumatische Erfahrungen hinter sich. Bis zu 97 Prozent der unbegleiteten Minderjährigen sind traumatisiert, mindestens die Hälfte von ihnen leidet unter posttraumatischen Störungen wie Konzentrationsschwächen, Depressionen oder Aggressionen. Eine gute Integration ist so nur schwer möglich, besonders in der Schule. Auf einem Fachtag über die Flüchtlingsarbeit in evangelischen Schulen in Hannover berichtete Koordinatorin Christiane Sättler-Adel von der Paulinenpflege Winnenden über ihre Erfahrungen mit unbegleiteten Flüchtlingen.
Die evangelische Berufsschule und Jugendhilfe begleitet derzeit 25 junge Männer aus fünf Nationen. Unbegleitete Mädchen gibt es in Winnenden keine, fast immer werden die Söhne nach Deutschland geschickt. An der Paulinenpflege lernen die Flüchtlinge Deutsch und werden auf einen weiterführenden Schulbesuch oder eine Ausbildung vorbereitet. Die ausgebildete Lehrerin für Gehörlose Sättler-Adel ist überzeugt: "Für eine evangelische Schule ist es ein ethischer Auftrag, die besonderen Bedürfnisse junger Leute nicht zu übergehen." Deshalb gehen die Lehrer gezielt auf die traumatischen Belastungen der Flüchtlinge ein und wenden Erkenntnisse aus der Trauma-Pädagogik an. Die Jugendlichen sollen neue, korrigierende Erfahrungen machen und dadurch emotionale Stabilität erfahren.
Gerade in der Schule zeigten sich die Symptome der posttraumatischen Anpassungsstörungen, würden aber häufig nicht erkannt, sagt Sättler-Adel. Oft reiche der Lärm eines Flugzeugs oder ein bestimmter Geruch, um das Trauma wiederzubeleben. "Die Jugendlichen schwanken ständig zwischen chronischer Überbelastung und chronischer Erschöpfung." Manche von ihnen schliefen beispielsweise den ganzen Vormittag im Ruheraum der Schule und seien kaum wach zu kriegen.
Ein Handschlag und ein Arzt
Aber Störungen im Unterricht, unkontrollierte Gefühlsausbrüche oder körperliche Beschwerden der minderjährigen Flüchtlinge mit einem "Reiß dich mal zusammen" abzutun, sei nicht der richtige Weg, findet Sättler-Adel. Stattdessen sollten Pädagogen versuchen, die Ursachen zu verstehen: "Schwierige Verhaltensweisen haben ihren guten Grund." So müssten viele unbegleitete Jugendliche seit ihrer Flucht Aufgaben übernehmen, die nicht altersgemäß sind: Die Eltern finanziell versorgen oder sich um den Familiennachzug kümmern. Dazu komme die Unsicherheit durch den ungeklärten Aufenthaltsstatus.
Ein weiterer Faktor für das unangepasste Verhalten unbegleiteter Minderjähriger sei die "digitale Nabelschnur" – das Handy. Darüber erreichten die Jugendlichen regelmäßig Hiobsbotschaften aus ihrer Heimat. Dazu kommt, "dass die Jungs ganz schlicht pubertär sind". Eine Zeit, in der es normalerweise gelte, eine eigene Identität zu finden und sich von den Eltern abzugrenzen. Aber das ist schwer, wenn die Eltern weit weg und hilflos sind.
Doch was hilft den Jugendlichen, wie können schwierige Situationen im Unterricht aufgefangen werden? "Ein wichtiger Begriff in der Trauma-Pädagogik ist Beistand leisten", sagte Sättler-Adel. Einfach da sein und den Schmerz mit aushalten – oft schon eine erste, korrigierende Erfahrung. Auch das persönliche Interesse am anderen könne helfen, Vertrauen aufzubauen. Dazu reichten oft einfache Fragen wie "Wie hast du heute Nacht geschlafen?" In der Paulinenpflege hat Sättler-Adel zudem ein Ritual eingeführt, das den Jugendlichen Struktur geben soll. Jeden Morgen begrüßt sie die Schüler mit einem Handschlag. Außerdem wichtig: Ärztliche Versorgung, denn viele der minderjährigen Flüchtlinge kommen mit einem verletzten Fuß, einer offenen Wunde oder psychosomatischen Kopfschmerzen in Deutschland an. Einer der Jugendlichen habe die Erfahrungen in Winnenden kürzlich selbst am besten zusammengefasst: "Wenn ich eine ruhige Seele habe, kann ich gut lernen."
Für die Lehrkräfte hat Sättler-Adel noch ein paar Ratschläge: Das schwierige Verhalten akzeptieren. Nicht persönlich nehmen. Und trotzdem dagegen halten. "Die Jugendlichen brauchen eine Person zum Kämpfen, weil die Eltern nicht da sind." Eine gesunde Distanz und eine ordentliche Portion Humor könnten beim Verarbeiten helfen. Denn: "Wichtig ist, dass wir als Lehrkräfte stabil sind, um den Schülern einen sicheren Ort zu bieten."
"Ein Schatzkästchen christlicher Traditionen"
Flüchtlinge werden an den meisten Schulen erwartet – und viele der meist muslimischen Jugendlichen werden auf Dauer bleiben. Besonders an evangelischen Schulen stellt sich daher auch die Frage nach einem friedlichen multireligiösen Zusammenleben. Katharina Gralla ist überzeugt, dass ein dezidiertes evangelisches Profil dabei helfen kann. "Ich kann nur auf andere zugehen, wenn ich weiß, wer ich selber bin."
Die Pastorin arbeitet an der Wichern-Schule Hamburg, die Schüler aller Glaubensrichtungen von der ersten Klasse bis zum Abitur besuchen können. Zurzeit sind etwa 55 Prozent der insgesamt 1.500 Schüler evangelisch, die restlichen sind katholischen, jüdischen, muslimischen oder hinduistischen Glaubens. Flüchtlinge gibt es bisher noch keine, weil die rechtliche und finanzielle Basis noch nicht geklärt ist.
Auf dem Fachtag in Hannover zeigte Gralla auf, wie ein klares evangelisches Schulprofil auf die bevorstehende Aufnahme von Flüchtlingen vorbereiten kann. Eine gute evangelische Schule sei für sie, "wenn sie es schafft, den Schülern ein Schatzkästchen christlicher Traditionen mitzugeben". Lieder, Gebete und Texte als "Kraftressourcen für ihr Leben". Die 160 christlichen Andachten im Jahr müssen an ihrer Schule nämlich alle Schüler besuchen. "Die Teilnahme hilft, respektvoll nachzuvollziehen, was da passiert." Viele muslimische Eltern schickten ihre Kinder sogar bewusst auf eine evangelische Schule, damit diese das Christentum als Teil der abendländischen Kultur kennenlernen, berichtete Gralla.
Zwar brauche jedes multikulturelle Zusammenleben auch Konzepte: Anti-Rassismus-Arbeit, Anti-Mobbing-Arbeit und immer wieder die Frage "Wie gehen wir miteinander um?" An ihrer Schule hat Gralla aber eine Beobachtung gemacht: "Es gibt relativ wenige explizit religiöse Themen." Wenn an der Wichern-Schule bald Flüchtlinge angenommen werde, fühlt die Pastorin sich auch darauf gut vorbereitet.