Philipp Leinemann ist zwar schon Mitte dreißig, hat seit seinem Regiestudium an der Münchener HFF (Abschlussfilm: "Transit") aber überwiegend Kurz- und Werbefilme gedreht. Womöglich hat er auch bloß Kraft gesammelt: "Wir waren Könige" ist ein knallharter Thriller, der eigentlich wie ein Orkan über die Kinoleinwände hinwegfegen müsste.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Schon allein die Besetzung ist grandios. Ronald Zehrfeld, Mišel Mati?evi? und Hendrik Duryn spielen die Mitglieder einer SEK-Einheit. Die Gruppe ist ein verschworener Haufen, der in einer eigenen Welt mit eigenen Gesetzen lebt; ihren Gesetzen. Als zwei der Männer erschossen werden und die Dienstwaffe eines der Opfer bei einem jungen Mann gefunden wird, steht für die Truppe außer Frage, was zu tun ist. Der Jugendliche kann zwar schwer verletzt entkommen, aber die Selbstjustiz des SEK weckt in Kevin (Zehrfeld) Skrupel. Erstmals stellt er die Willkürlichkeit ihres Verhaltens und damit auch die bedingungslose Freundschaft zum Gruppenführer Mendes (Mati?evi?) in Frage. Hinter dem Rücken der anderen beginnt er zu recherchieren. Sein schlichtes Weltbild bekommt tiefe Risse, als er rausfindet, wie korrupt der komplette Haufen ist. Der Vorgesetzte (Thomas Thieme) deckt die Machenschaften; als er Druck von oben bekommt, droht das bislang so stabile Gebilde auseinander zu fliegen.
Die SEK-Einheit steht zwar im Zentrum, doch zwei weitere verfeindete Gruppen aus einer anonymen Wohnblocksiedlung spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Ihre Anführer sind mit Frederick Lau und dem filmisch kaum bekannten Tilman Strauß gleichfalls gut besetzt, wobei gerade Lau als zorniger unterbelichteter Schläger herausragend ist. Die beiden Cliquen haben entscheidenden Anteil daran, dass die Gewalt noch weiter eskaliert. So richtig beginnt die Geschichte aber erst, als ein dreizehnjähriger Junge dem falschen Vorbild nacheifert.
Gedreht wurde mit viel Alkohol
Ähnlich wie in dem Sat.1-Mehrteiler "Blackout", vor rund zehn Jahren genauso unterschätzt wie einst Grafs "Sieger", oder wie in diversen Hollywood-Vorbildern gibt es in Leinemanns Film keinerlei Unterschiede zwischen den Gesetzeshütern und den Gesetzesbrechern; beide Seiten zeichnen sich durch eine ungezügelte Gewaltbereitschaft aus. Wie fließend die Grenzen sind, zeigt ein gemeinsamer feuchtfröhlicher Bowlingabend der SEK-Männer und einer der beiden Gangs. Die Szene ist auch deshalb so glaubwürdig, weil der in Strömen fließende Alkohol echt war. Diese Methode scheint typisch für Leinemanns Arbeitsweise zu sein: Er hat unter anderem außerdem dafür gesorgt, dass die Darsteller eine SEK-Kaserne besuchen und diese hermetisch abgeschottete Welt kennen lernen konnten.
Mindestens so entscheidend wie die Authentizität gerade auch der Atmosphäre ist jedoch die Umsetzung. Der Film nimmt sich kaum Zeit zum Verschnaufen. Bildgestaltung, Schnitt und Musik sorgen dafür, das die Filmbilder vor Testosteron beinahe bersten. Nicht zuletzt dank dieser ungeheuren Intensität, der großartigen Kameraarbeit (Christian Stangassinger) und der ausgezeichneten Darstellerführung ist "Wir waren Könige" das aufregendste deutsche Regiedebüt seit Jahren.