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Einen toten Flüchtling hat es - trotz Trauerbekundungen am Lageso in Berlin - nie gegeben.
«Es braucht wenig, damit sich Gerüchte verbreiten»
Drei Fragen an den Kommunikationswissenschaftler Matthias Kohring
28.01.2016
epd
Matthias Klein (epd-Gespräch)

Mannheim (epd)Die Meldung machte Schlagzeilen: Ein Berliner Flüchtlingshelfer hatte in sozialen Netzwerken berichtet, dass ein 24-jähriger Syrer nach langem Warten vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) gestorben sei. Später gestand der Helfer bei einer Vernehmung durch die Polizei, dass er sich die Geschichte ausgedacht hatte. Dazu drei Fragen an Matthias Kohring, Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim, der Gerüchte erforscht.

Gewisse Anfangsplausibilität

epd: Herr Kohring, am Mittwoch sorgte die Meldung von einem angeblich verstorbenen Flüchtling in Berlin für Aufsehen. War das aus Ihrer Sicht ein typisches Gerücht?

Kohring: Ja, das war ein typischer Fall für ein Gerücht, das mit einer bestimmten Absicht in die Welt gesetzt wurde. Es hat sich dann auch wie ein typisches Gerücht verbreitet. Damit Menschen Gerüchte glauben und weiterverbreiten, braucht es wenig: Nötig ist lediglich eine gewisse Anfangsplausibilität, also die Geschichte muss grundsätzlich vorstellbar sein. Insbesondere in Krisenzeiten verbreiten sich Gerüchte dann sehr schnell, weil viele mitmachen. Man kann das mit einer Infektion vergleichen.

epd: Warum verbreiten sich nicht überprüfte Behauptungen so schnell?

Kohring: Viele Menschen empfinden die Situation durch die vielen Flüchtlinge im Land persönlich als krisenhaft. Gerade wenn Menschen eine solche Unsicherheit empfinden, ist die Bereitschaft groß, solchen Behauptungen zu glauben. Denn Gerüchte haben die soziale Funktion, dass sie Gemeinschaft herstellen. Das führt zu einer Frontenbildung: Es gibt dann auf der einen Seite die, die daran glauben, und auf der anderen Seite die, die Gegenstand des Gerüchts sind - und übrigens auch die, die nicht daran glauben. Diese fatale Vereinfachung einer komplizierten Situation gibt vielen Menschen Sicherheit, und so sind sie bereit, unbewiesene Behauptungen weiterzuverbreiten. Langlebige Gerüchte sind so vage formuliert, dass sie nicht oder nur sehr schwer überprüfbar sind. Das war im Fall des angeblich toten Flüchtlings allerdings anders.

Grenzen des Wissens

epd: Der Flüchtlingshelfer hatte auf Facebook über den angeblichen Tod des Flüchtlings geschrieben. In sozialen Medien kann jeder Mensch öffentlich kommunizieren, haben sich Gerüchte dadurch verändert?

Kohring: Nein, grundsätzlich nicht. Die Funktion ist dieselbe wie vor einigen hundert Jahren. Nur verbreiten sich Gerüchte und nicht überprüfte Meldungen heute sehr viel schneller, wie man auch am Mittwoch sehen konnte. Wichtig ist, dass man solche Gerüchte und Behauptungen nicht ausmerzen kann. Die Medien können diese dann auch nicht einfach ignorieren. Wer schweigt, erzeugt erst recht den Eindruck, dass etwas nicht stimmt. Journalisten sollten deshalb über solche Meldungen berichten, aber die Grenzen ihres Wissens thematisieren.