Journalisten und Pfarrer haben gemeinsam, dass man sie der Lüge beschuldigt, zumindest verdächtigt. Was die Pfarrer angeht, heißt es, es werde nirgendwo so viel gelogen wie am Sarg. Die Welt sei so schlecht, weil bisher nur gute Menschen gestorben seien, wolle man den Pfarrern und ihren Beerdigungspredigten glauben.
Helmut Schmidt hat posthum – zwei Tage nach seinem Tod – in der FAZ mitteilen lassen, dass er die Theologen für verlogene Karrieristen hielt. Wir dürfen als sein Vermächtnis zum Thema Christentum dort lesen:
Das Christentum bildet sich ein, eine monotheistische Religion zu sein, ist es aber gar nicht. Jesus Christus ist viel wichtiger als der liebe Gott. Und außerdem gibt es noch einen Heiligen Geist – den hat Jesus Christus nicht erfunden, den hat ein Konzil erfunden. Und neben dieser heiligen Dreieinigkeit gibt es noch die Gottesmutter Maria, die in Polen viel wichtiger ist als Jesus und als der liebe Gott. Der Monotheismus ist eine Selbsttäuschung. Das glaubt der Ratzinger, aber der auch nicht ganz. Es ist auch eine Selbsttäuschung der Protestanten. Die alten Griechen waren da viel ehrlicher, die haben gleich viele Götter erfunden. Und nicht bloß vier. Wie die Jungfrau zum Kind gekommen ist, kann kein Christ wirklich glauben. Aber es wird gelehrt. Und keiner glaubt es. Das sind sehr seltsame Dinge. Es wird gelehrt kraft Autorität, kraft institutionalisierter Autorität. Und natürlich muss auch ein Theologiestudent, der die Hoffnung hat, Gemeindepfarrer und später Propst und noch später Bischof zu werden, so tun, als ob er es glaubte. (FAZ 12.11.2015, S. 11, Ein Gespräch mit Helmut Schmidt über die letzten Dinge; die Fragen stellten Patrick Bahners und Jürgen Kaube)
Das hielt Helmut Schmidt ja offensichtlich lange vor seinem Tod für wahr. Das Gespräch fand bereits im Sommer 2011 statt. Er selbst und die FAZ hielten es aber für opportun, diese Wahrheit erst nach seinem Tod zu veröffentlichen. Das sprach nicht dagegen, die Trauerfeier dem Wunsch des Verstorbenen entsprechend mit einem Gottesdienst im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes zu beginnen – einschließlich Johann Sebastian Bach, Matthias Claudius "Der Mond ist aufgegangen" und einer lobenden christlichen Predigt des Hauptpastors – live vom Fernsehen übertragen. Man kann fragen, welche Wahrheit dadurch mitgeteilt wurde.
Wir lieben die Wahrheit, solange sie für uns angenehm und hilfreich ist. Wir mögen sie sogar fordern, auch wenn sie unangenehm ist, solange wir nicht selber dadurch bloßgestellt und kritisiert werden. Dann nämlich halten wir die Veröffentlichung der Wahrheit gern für entbehrlich.
Als Betroffener findet man sich in den Medien oft nicht zutreffend dargestellt, nur teilweise und dadurch verzerrt zitiert. Wenn man Berichte über andere Personen liest, hört oder sieht, geht man aber allzu leicht davon aus, dass die zutreffend dargestellt wurden. Die öffentlichen Medien genießen bei den meisten Konsumenten so viel Ansehen, dass man ihnen einen Vertrauensvorschuss gewährt. Als Medienleute mögen Sie selber beurteilen, was oder wer Sie zur Veröffentlichung treibt oder an ihr hindert, falls Ihnen Tatsachen und Verhalten bekannt werden, deren Veröffentlichung für die Betroffenen unangenehm sein werden.
Ich möchte drei Fragen stellen.
1. Welche Maßstäbe geben uns Orientierung?
In den Zehn Geboten gibt Gott uns den Maßstab: "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten." (2. Mose 20,16) Der Alttestamentler Martin Noth übersetzt: "Du sollst nicht als ein Lügenzeuge gegen deinen Nächsten aussagen." Jesus sagt in der Bergpredigt: "Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel." (Matthäus 5,37) In diesen Maßstäben geht es um Wahrheit im Sinne von Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit.
Wir müssen aber auch das Verhältnis von Wahrheit und Liebe, auch von Wahrheit und Gerechtigkeit bedenken, insbesondere wenn es um die Frage geht, ob etwas veröffentlicht werden soll und wie viel von dem, was dem Journalisten zur Kenntnis gekommen ist, veröffentlicht werden soll. Halbe Wahrheiten sind nicht selten ganze Lügen. Wir werden uns also fragen müssen, ob in einem konkreten Fall die Wahrheit bereits verdreht wird, wenn bestimmte Anteile oder Hintergründe nicht berichtet werden.
Jesus sagt auch: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich." (Johannes 14,6) Und: "Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen." (Johannes 8,31f) Wahrheit hat also laut Bibel auch einen Inhalt, dem sowohl Irrtum als auch Lüge entgegenstehen können. Spielt das für Christen in den Medien und für christliche Medien eine Rolle?
2. Treten wir Lawinen los oder helfen wir beim Aufbau?
Wahrheit in den Medien heißt veröffentlichte Wahrheit. Muss jede Wahrheit in die Öffentlichkeit? Jeder verantwortliche Autor und Redakteur wird sich fragen: Was wird die Veröffentlichung bewirken? Was soll sie bewirken? Kann man das vorher abschätzen? Da Internet und soziale Medien jedem heute enorme Möglichkeiten zur Veröffentlichung bieten, stellen sich diese Fragen nicht nur Journalisten.
Es wird einigen von Ihnen nicht entgangen sein, dass ich selbst mich in den vergangenen Wochen in dieser Hinsicht aufs Glatteis begeben habe. Ich will mich nicht wichtigmachen. Aber ich will mich auch nicht verstecken und theoretisch moralisieren, anstatt mich selbst mit meinem umstrittenen Verhalten zu exponieren.
Ich hielt es seit längerer Zeit für geboten, einige Fehlentwicklungen in den evangelischen Kirchen öffentlich zu kritisieren. Sie wurden nach meiner Einschätzung ohne allzu großen Widerstand hingenommen. Da geht es um Grundfragen wie: Ist die Bibel, wie die Reformatoren es lehrten, Gottes Wort, Urkunde der Offenbarung Gottes und darum letztgültiger Maßstab für Glauben und Leben der Christen und Kirchen? Ist der gekreuzigte und auferstandene Jesus Christus allein und für alle Menschen der Retter, durch den sie mit Gott versöhnt werden? Enthält die Bibel verbindliche Maßstäbe auch für das heute heiß umstrittene Verständnis von Ehe und Sexualität, auch Homosexualität? Diese Fragen wurden in letzter Zeit in Dokumenten der EKD und Stellungnahmen von Kirchenleitern definitiv verneint.
Ich habe Äußerungen des Präses des Gnadauer Verbandes und Vorsitzenden der DEA in WELT ONLINE zum Anlass für einen offenen Brief an ihn genommen. Manche haben mir vorgeworfen, ich hätte meine Beschwernisse in einem persönlichen Brief oder Gespräch klären sollen. Das habe ich selber vorher bedacht. Es gab keine Missverständnisse zwischen uns. Wir kennen unsere Positionen seit einiger Zeit und haben sie wechselseitig klar und ohne Verzerrung dargestellt. Wir stellen gegenseitig unseren Glauben nicht in Frage. Aber wir haben unterschiedliche Vorstellungen, ob und wie die kritischen Fragen in und mit den Kirchen öffentlich angesprochen werden müssen oder nicht. Dieser Dissens schwelt seit langem bei den Evangelikalen unter der Decke. Ich war und bin der Überzeugung, dass er in die Öffentlichkeit muss.
Öffentlichkeit wird über Medien hergestellt. Die Medien sind an Konflikten interessiert. Konflikte erregen leider mehr Aufsehen als Harmonie in Wald und Flur. Michael Diener und ich wussten das. Wir haben unsere Meinungen bewusst den Medien mitgeteilt. Wir wollten die öffentliche Wahrnehmung. Natürlich haben wir beide den Wunsch, durch unsere Positionierungen zu einer hilfreichen Orientierung und zum Aufbau der Gemeinden beizutragen. Wir riskieren dabei allerdings auch, eine Lawine loszutreten, die zerstört. Die bisherigen Reaktionen zeigen, dass der in Gang gekommene Prozess sehr gegensätzlich bewertet wird. Die einen meinen, ich hätte großen Schaden angerichtet, andere bekunden, die Herstellung von Öffentlichkeit sei notwendig und förderlich. Auch in dieser Lage gilt Kierkegaards Feststellung, das Leben werde erst rückwärts verstanden, müsse aber vorwärts gelebt werden.
3. Hat das Evangelium einen Nachrichtenwert?
Religion ist Privatsache. Das war ursprünglich ein Freiheitssatz. Nicht mehr der Staat, sondern jeder Einzelne hat das Recht zu bestimmen, was er glaubt. Heute wird der Satz eher so verstanden, dass Religion etwas Intimes ist, das eher nicht in die Öffentlichkeit gehört. Die "großen Taten Gottes" – dass Gott in Jesus Mensch geworden ist, zu unserer Rettung gekreuzigt und auferweckt wurde – sind nach modernem und postmodernem Verständnis gar keine Fakten, sondern nur Teil von Glaubensüberzeugungen und gehörten als solche eher in die Abteilung Feuilleton als in die Nachrichten. Wir können in unseren Predigten und Vorträgen noch so heftig über Gottes Handeln sprechen, berichtet wird in den Medien über die Nebensätze, in denen wir politische oder kirchenpolitische Bemerkungen gemacht haben. Nur diese Bemerkungen scheinen überhaupt noch anschlussfähig an ein gottvergessenes Wirklichkeitsverständnis vieler Zeitgenossen zu sein und kommen als Nachrichten in Frage.
Gilt das auch für christliche Medien, also solche, die von Kirchen und christlichen Organisationen verantwortet werden? Sie sollen neben Nachrichten auch Verkündigung der christlichen Wahrheit bringen. Das darf man wohl erwarten.
Das Problem ist: Wir sind uns über die Wahrheit, die wir mitteilen sollen, gerade in den wesentlichen Punkten nicht einig. Es besteht keine Einigkeit über die Zuverlässigkeit und Autorität der Bibel, auch nicht über die zentrale Person des christlichen Glaubens, Jesus Christus, nicht über die Bedeutung seines Kreuzestodes, nicht ob seine Auferstehung tatsächlich geschehen ist, nicht ob er wiederkommen wird zur Auferweckung der Toten und zum Gericht. In ethischen Fragen besteht auch keine Einigkeit. Es hilft nicht wirklich, dass wir die neuen und neuesten Medien benutzen, wenn wir nur eine Kakophonie von Widersprüchen mitzuteilen haben.
Vor etwa 12 Jahren erlebte ich eine Gesprächsrunde mit Verantwortlichen des CVJM und dem TV-Journalisten Ulrich Wickert. Jemand fragte ihn, warum die Kirchen so weinig in den Nachrichten vorkämen. Er antwortete nach meiner Erinnerung, er sähe nicht, was da zu berichten wäre. Ja, am Papst könne man sich reiben. Aber bei den evangelischen Kirchen sei nicht erkennbar, wofür sie stehen.
Martin Luther hat den deutschsprachigen Gottesdienst als "eine öffentliche Reizung zum Glauben" bezeichnet. Da die meisten Gottesdienste heute unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, fällt den Medien diese Aufgabe zu. Wir haben Möglichkeiten wie nie zuvor. Ich ersehne, dass das Evangelium von Jesus Christus in Wahrheit und Klarheit auf vielen Kanälen und durch viele Medien vermittelt wird.