TV-Tipp des Tages: "Der verlorene Bruder" (ARD)
TV-Tipp des Tages: "Der verlorene Bruder", 9. Dezember, 20.15 Uhr im Ersten
1945 musste das Ehepaar Blaschke vor der nahenden Roten Armee fliehen. In der westfälischen Provinz haben sich Ludwig und Elisabeth mit einem kleinen Lebensmittelladen eine neue Existenz aufgebaut. Während er das Wirtschaftswunder genießt, wird sie regelmäßig von der Trauer um ihren Sohn Arnold übermannt, der verloren gegangen ist, als die Russen die Flüchtenden einholten.

Es erfordert Mut und Feingefühl, ein Drama als Komödie zu tarnen; andererseits sind die besten Komödien jene, in denen sich hinter heiteren Fassaden tragische Abgründe auftun. In diesem Fernsehfilm funktioniert die Methode, weil "Der verlorene Bruder" aus der Perspektive eines Dreizehnjährigen geschildert wird. Die Geschichte, die Max (Noah Kraus, ein Naturtalent) erzählt, ist gleich in mehrfacher Hinsicht traurig: 1945 musste das Ehepaar Blaschke (Katharina Lorenz, Charly Hübner) vor der nahenden Roten Armee fliehen. In der westfälischen Provinz haben sich Ludwig und Elisabeth mit einem kleinen Lebensmittelladen eine neue Existenz aufgebaut. Während er das Wirtschaftswunder genießt, wird sie regelmäßig von der Trauer um ihren Sohn Arnold übermannt, der verloren gegangen ist, als die Russen die Flüchtenden einholten. Leidtragender ist vor allem Max, der keine Chance gegen den nicht vorhandenen, aber dennoch allgegenwärtigen älteren Bruder hat. Als Elisabeth eines Tages erfährt, dass just am Tag des Schicksalsschlages ein Findelkind aus dem Flüchtlingstreck abgegeben wurde, ist sie überzeugt dass es sich um Arnold handelt. Fortan unterzieht sich die Familie diversen immer absurderen Untersuchungen, die mit Hilfe körperlicher Übereinstimmungen die Verwandtschaft belegen sollen.

Zur Komödie wird die zu Herzen gehende Geschichte, weil Max alles tut, um die Familienzusammenführung zu sabotieren: Wenn schon der verlorene Bruder eine derart übermächtige Rolle spielt, wie soll das erst werden, wenn er leibhaftig anwesend ist? Außerdem hat er keine Lust, sein Zimmer mit Arnold zu teilen. Also schickt er einen anderen Jungen zum Fotografen, als sein Hinterkopf abgelichtet werden soll, und durchtrennt die Benzinleitung von Vaters Auto, als die Familie zu einem Spezialisten (Ernst Stötzner) nach Heidelberg fahren soll. Dummerweise hat er das Kabel für die Handbremse erwischt, was sich später als fatal erweist; jedenfalls für den schönen neuen Opel Kapitän, der Ludwigs ganzer Stolz ist.

Ruth Tomas Drehbuch basiert auf dem Roman "Der Verlorene" von Hans-Ulrich Treichel, der in seinem Buch autobiografische Erfahrungen verarbeitet hat. Toma strukturiert die Handlung episodisch und nach einem mehrfach wiederkehrenden Muster: Elisabeth macht sich Hoffnungen, Max macht sich Sorgen und sinnt nach Auswegen, Ludwig macht gute Stimmung und versucht, seine Frau mit immer wieder neuen Anschaffungen zu trösten. Auf diese Weise vermittelt der Film die Aufbruchstimmung jener Jahre: Zum Radio gesellen sich eine Fernsehtruhe und ein Plattenspieler, und die Autos werden immer größer. Elisabeth bleibt jedoch untröstlich; Ludwig, ein Familienvater von altem Schrot und Korn, ist ohnehin viel zu fixiert auf sein Geschäft, um sich großartig um die seelischen Nöte seiner Frau zu kümmern. Der schöngeistige Dorfpolizist Rudolf (Matthias Matschke) ist da deutlich besser geeignet, und als die Familie einen weiteren Schicksalsschlag verkraften muss, erweist sich der Operettenfreund als warmherziger Witwentröster, der mit Hilfe der Arie "Dein ist mein ganzes Herz" deutlich macht, wonach sein Herz sich sehnt.

Der mehrfache Grimme-Preisträger Matti Geschonnek setzt Tomas Drehbuch mit genau der richtigen Mischung aus leichter Beschwingtheit, melancholischer Heiterkeit und nötigem Ernst um; eine schwierige Gratwanderung, die ihm zuletzt auch in dem Familiendrama "Ein großer Aufbruch" vorzüglich gelungen ist. Natürlich ist es erst mal witzig, wenn Max die Bemühungen seiner Eltern torpediert, aber Geschonnek macht sich nie über Elisabeths Trauer lustig. Ludwig kommt weniger gut weg; seinen puren Materialismus schildert der Film mit ironischer Distanz. Das gilt erst recht für seine Schwester (Johanna Gastdorf), eine furchtbare Frömmlerin, die das Fernsehen und den Rock’n’Roll für Teufelszeug hält und allen auf die Nerven geht.

Zentrale Figur ist ohnehin der Junge, für den andere Dinge viel wichtiger sind als die Suche nach dem verlorenen Sohn; zum Beispiel Mitschülerin Milli (Flora Li Thiemann). Leider hat sie bloß Augen für den Schulrüpel, der den schmächtigen Max zum bevorzugten Mobbing-Opfer erkoren hat. Der junge Noah Kraus macht seine Sache ganz phänomenal und überzeugt auch als Erzähler, zumal Max die Handlungen immer wieder mit seinen Kommentaren würzt. Eine jeder glaubwürdig gespielte sehenswerte Tragikomödie, die dank Ausstattung und Kostüm die Atmosphäre der frühen Sechzigerjahre wunderbar zum Leben erweckt und dem tragischen Kern zum Trotz auch als Familienfilm funktioniert.