Langsam holpert das alte Auto über die Straße. Fatima Thweib guckt konzentriert nach vorne, weicht Schlaglöchern aus und umkurvt große Erdhügel, die ihr mitten auf der Straße den Weg versperren. "Das sind Überreste der letzten Intifada", erzählt sie und lenkt den Wagen in die ausgefahrene Spurrille um den Erdhaufen herum. Sie ist auf dem Weg in ihr Dorf Zaatarah in der Nähe von Bethlehem. Sie war den ganzen Tag unterwegs, um im Auftrag der Deutschen Behindertennothilfe Menschen mit Behinderung zu besuchen und herauszufinden, welche Hilfen sie brauchen. "Manchmal bezahlen wir die Medikamente, manchmal besorgen wir einen Rollstuhl oder sorgen dafür, dass das Haus behindertengerecht umgebaut wird", erzählt die 64-Jährige. Sie arbeitet bereits seit fast 20 Jahren für die Organisation, die Mädchen und Frauen mit Behinderung im Westjordanland unterstützt. Den Tag, an dem sie mit ihrer Arbeit für die Behindertennothilfe anfing, bezeichnet sie gern als ihren "zweiten Geburtstag".
Ihr erstes Leben beginnt 1951 in einem Zelt in der judäischen Wüste. Fatima wird als erstes Kind des Beduinenscheichs Mohammad Salim Thweib geboren. Entgegen aller Traditionen schickt der Scheich seine beiden ältesten Töchter zu den Kaiserwerther Diakonissinnen, die im Internat "Talitha Qumi" in Beit Jala unterrichten. Der Name der Schule heißt "Mädchen, steh auf" und geht auf eine Geschichte des Evangelisten Markus zurück. Eine wegweisende Aufforderung für Fatima, die sich oft wieder "aufrappeln" muss. Ihr Traum von einem Medizinstudium zerplatzt, als ihr Vater sie mit 16 Jahren mit einem Cousin verheiratet. "Ich habe geweint und geweint und geweint", erinnert sich Fatima. Trotzdem habe sie die Entscheidung ihres Vaters verstehen können: Sie sei schon recht alt gewesen und hätte ihr Vater sie nicht verheiratet, wäre sein Name getilgt worden.
Ihr Name: Im Magdollin
Von nun an dreht sich Fatimas Welt um die Familie. Nach drei gesunden Töchtern und einem Sohn kommt ihre jüngste Tochter Magdollin mit Spina Bifida, einer Fehlbildung der Wirbelsäule und des Rückenmarks, zur Welt. Für Fatima beginnt eine schwere Zeit: Sie will, dass ihr Magdollinchen, wie sie ihre Tochter liebevoll nennt, die gleichen Chancen wie ihre anderen Kinder bekommt. Doch in der palästinensischen Gesellschaft gelten Behinderungen als Schmach und Behinderte werden versteckt. Auch Fatimas Familie versteht lange nicht, warum sie sich so für ihre Tochter einsetzt. "Sie sagten, dass es doch genug wäre, wenn sie isst und schläft. Sie haben mich gefragt, warum ich mich so aufrege. Aus ihr würde ja doch nie eine Ärztin oder so etwas werden", erzählt Fatima. Diese Zeit sei für sie sehr, sehr schwer gewesen. Doch sie wollte nicht aufgeben.
Nachdem Magdollin in einem Internat nicht glücklich war, holte Fatima sie wieder zurück nach Hause. "Wir hatten kein Auto und es gab auch keine Straßen, deshalb habe ich Magdollin jeden Tag auf meinem Rücken zur Schule getragen", erinnert sich die 64-Jährige. Fatima weiß, wo sie sich der Tradition beugen muss und wo sie mit ihr brechen kann: So benennt sich eine Frau traditionell nach ihrem ältesten Sohn. Fatimas Name wäre deshalb eigentlich "Im Muhammad" – Mutter Muhammads – nach ihrem ältesten Sohn. Doch stattdessen hat sie sich für den Namen "Im Magdollin" – Mutter Magdollins – entschieden. Ein Bekenntnis zu ihrer behinderte Tochter.
"Ich freue mich, dass ihr mit Fatimas Arbeit einverstanden seid"
In dieser Zeit lernt sie den Sozialarbeiter Johannes Roelofsen von der Deutschen Behindertennothilfe kennen. Die Organisation übernimmt die Kosten für Magdollins Physiotherapie und mit der Zeit fassen die beiden Vertrauen zueinander. "Uns wurde klar, dass wir jemanden vor Ort brauchen, der sich mit der Situation auskennt und für die Menschen da ist. Und da war Im Magdollin die beste Ansprechpartnerin", so Roelofsen. "Ich habe Glück. Mein Mann verbietet mit nichts", sagt Fatima und sie weiß: Es ist nicht selbstverständlich, dass ihr Ehemann sie mit einem anderen Mann zusammenarbeiten lässt. Ganz so einfach ist es jedoch nicht: Die Tradition schreibt vor, dass ihr Ehemann erst die Verwandtschaft um Erlaubnis bitten muss, bevor er Fatima das Arbeiten erlauben darf. Dabei sei er jedoch sehr geschickt vorgegangen: "Bei einer Familienfeier sagte er: 'Ich freue mich, dass ihr alle mit Fatimas Arbeit einverstanden seid.' Keiner habe sich getraut, etwas dagegen zu sagen", erinnert sie sich und lächelt.
Ihr Einsatz für die Behindertennothilfe kostet viel Kraft und Zeit. Doch Fatima weiß, dass manche Frauen sie beneiden und auch gerne das tun würden, was sie tut. "Für andere Frauen wäre es noch schwerer als für mich. Mich schützt der Name meines Vaters, sie bringen mir Respekt entgegen, weil er ein großer Mann war", so Fatima. Es ist der Name ihres Vaters, der ihr heute noch Türen öffnet. Das hat auch Roelofsen bemerkt: "Wenn ich mit Im Magdollin unterwegs bin, ist das Vertrauen sofort da."
Fatima verteilt Rollstühle und Medikamente und klärt über die Ursache von Behinderungen auf – meist sind die Ehen zwischen Verwandten Schuld daran. Sie ermutigt die Menschen, zu Betroffenen in ihrer Familie zu stehen und ermuntert Menschen mit Behinderung, sich große Ziele zu setzen. Immer wieder erzählt sie auch ihre eigene Geschichte, spricht offen darüber, dass sich ihre Kinder entgegen aller Traditionen Partner außerhalb des Stammes suchen mussten und dass sie dadurch für beduinische Verhältnisse sehr spät geheiratet hätten. "Und trotzdem habe ich 16 wundervolle Enkelkinder – die Welt ist also nicht untergegangen", sagt sie schmunzelnd.
Manchmal sei ihr jedoch gar nicht nach Lachen zumute: nämlich immer dann, wenn sich Familien nicht gut um ihre behinderten Familienangehörigen kümmern würden. Und das komme, so Johannes Roelofsen, leider gar nicht so selten vor. "Einmal haben wir dafür kämpfen müssen, dass eine Frau mit Spina Bifida, die mit ihrer geistig behinderten Schwester in einer Kellerwohnung gelebt hat, eine Toilette bekommt. Die Vermieterin hat sich lange Zeit geweigert, dass wir eine einbauen. Und dann habe ich erfahren, dass es die Stiefmutter der beiden war", erinnert sich Roelofsen wütend.
Auch wenn ihr Jugendtraum von einem Medizinstudium geplatzt ist und ihr Leben auch nicht unbedingt so verlaufen ist, wie sie es sich gewünscht hat, sagt Fatima heute über sich: "Ich mache das, was ich schon immer machen wollte". Auf ihre Tochter Magdollin ist sie besonders stolz: sie hat einen Universitätsabschluss in Englischer Literatur und ist zu einer selbstbewussten und starken jungen Frau herangewachsen.