Zu Beginn der Proben waren sie 19. Jetzt, kurz vor ihrem Premieren-Auftritt am Sonntag, sind sie 15. Sie laufen vom hinteren Ende des langgezogenen Raumes los in Richtung Tribüne. Sie gestikulieren, sie reden durcheinander. Zwei der jungen Leute stehen am Schlagzeug und begleiten die Ankunft der Jugendlichen und ihres Stimmengewirrs. Warum vier auf dem Weg verloren gingen, dazu später.
Das Bockenheimer Depot, die ehemalige Hauptwerkstatt der Straßenbahn Frankfurt am Main, ist Spielstätte des Jungen Schauspiels Frankfurt. Der Spielort für das Stück 'Frankfurt Babel' ist also keine klassische Bühne vor der Sitzreihen aufgebaut sind. Der Zuschauer schaut von oben auf das, was durch diesen tunnelartigen Raum auf ihn zukommt. Im Fall von 'Frankfurt Babel' sind es die Geschichten junger Menschen, denen die Zuschauer in cirka 70 Minuten sehr nahe kommen können.
Es geht um Mitgefühl, um Empathie: "Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen" (1.Mose 11,4) rezitieren die Jugendlichen auf der Bühne, die aus 20 beschreibbaren Bodenplatten besteht. Hier haben sie zu Beginn des Stücks mit Kreide eine Weltkarte gezeichnet. Ausgangspunkte sind Babel im Lande Schinar und Frankfurt, in Deutschland.
"Dass wir uns einen Namen machen? Was heißt das?", fragt eine. Andere antworten: "Dass wir sichtbar werden" oder "wir kennen uns viel zu wenig". So stellen sich die Jugendlichen im Verlauf des Stücks den Zuschauern vor - sie sprechen ihre Herkunft an und erzählen ihre Eindrücke von dem, was sie in Deutschland und ihren Heimatländern erlebt haben: "Ich habe Annie gefragt", sagt der 14-jährige Idris aus Afghanistan: "Wie ist es in den USA? Sie hat geantwortet: Die Menschen sind bewaffnet, da gibt es Schießereien", und über Deutschland habe Annie gesagt, fährt Idris fort, es sei unorganisiert, Pegida sei sinnlos, die Umwelt werde zertört.
Antigone mag auf der Frankfurter Einkaufsstraße Zeil nicht von Salafisten angesprochen werden, dass ihr Rock zu kurz sei. Besonders gastfreundlich finden sie und ein paar andere Deutschland nicht. "Die Politiker wissen nicht, was gerade zu tun ist", sagt Ronja, auch wenn sie so täten.
Frankfurter Skyline bis Turmbau zu Babel
Auch von A, B, C und D erfahren wir, wo sie herkommen, erfahren, was sie über Deuschland denken und was sie einmal werden wollen: Lehrer, Polizist, Kindergärtner, Ärztin. Sie sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und ihre Namen dürfen auf Weisung des Jugendamtes nicht in der Öffentlichkeit genannt, Fotos von ihnen nicht publiziert werden. Deswegen bekommen sie für das Theaterstück diese Buchstaben als Namen. Vier von ihnen, E, F, G und H, sind der Gruppe in den vergangenen Wochen verloren gegangen. Verlegt oder abgeschoben.
Vieles klingt an, 'Frankfurt Babel' ist assoziativ entstanden, aus Gesprächen und Diskussionen in der Gruppe. Nicht alles zu wissen, sich vieles denken zu können, mehr wissen zu wollen und vor allem: berührt zu sein - das ist es, was das Stück ausmacht. Die Leiterin des Jungen Schauspiel Frankfurt Martina Droste und der freischaffende Musiker und Regisseur Chris Weinheimer haben das Stück gemeinsam mit den Jugendlichen entwickelt. Schon zuvor hatten die beiden für zwei inklusive Jugend-Theaterprojekte zusammengearbeitet. Diesmal sollte es ein Stück mit jungen Geflüchteten werden.
Die Idee sei ihr schon gekommen, bevor die "Flüchtlingkrise“ im Raum stand. Das Thema Sprache habe sie interessiert, erzählt Martina Droste. Gemeinsam seien sie und Chris Weinheimer schnell auf Stichworte wie 'babylonisches Stimmengewirr' gekommen – in Frankfurt leben so viele Nationalitäten wie in keiner anderen deutschen Stadt zusammen. Von den Türmen der Frankfurter Skyline sei es dann nicht weit bis zum 'Turmbau zu Babel'. "So entstand dann der Titel 'Frankfurt Babel'", sagt Martina Droste.
Sie und Chris Weinheimer wünschen sich, dass Diskussionen im Anschluss an das Stück entstehen. Der Inhalt sei schließlich hochpolitisch: "Die Babel-Geschichte besteht nur aus neun Sätzen und diese Fabel ist so spannend, weil sie es in dieser Kürze schafft, das komplexe Verhältnis von Macht und menschlicher Gesellschaft zu zeigen", sagt Chris Weinheimer.
Einerseits gibt es diese Jugendlichen. Sie sehen aus, wie Jugendliche eben so aussehen. Kapuzenjacken, Hemd, Hose, Rock, Kleid. Sie stellen Fragen, wie Jugendliche sie stellen, die noch nicht vorgeben, alles zu wissen: "Warum gibt es einen Nord- und Südpol und keinen Ost- und Westpol?", fragt Aysha. Und sie spielen, wie Jugendliche eben so spielen - halb erwachsen, halb Kind: mit rollenden Tischen, Stühlen und einer Platte schieben sie sich über die von ihnen gemalte Weltkarte, leuchten mit Scheinwefern durch den Raum als Mond, Sonne und Erde.
Andererseits gibt es diese jungen Menschen, die sich gegenseitig Mut zusprechen: "Da sagt ein 16-Jähriger einem 14-Jährigen, er müsse Geduld haben, dann werde alles gut", erzählt Martina Droste. Sie und Chris Weinheimer haben während der Entwicklung des Stücks viel mit und über ihre jungen Schauspieler gelernt Sie versuchten sich gegenseitig, trotz verschiedener Sprachen, die Welt zu erklären, sie erlebten gemeinsam die Machtlosigkeit, wenn ein Viertel der Gruppe einfach nicht mehr kommen kann.
"Noch nicht das Ende"
Die Verfasstheit eines Staates lasse sich daran ermessen, wie er mit denen umgehe, die er nicht dazu zählt, sagt Martina Droste. "Einer unserer Jugendlichen wurde zu Beginn des letzten Kälteeinbruchs in eine andere Stadt verlegt - von heute auf morgen - und hatte in der ersten Nacht lediglich eine Matratze, ohne Bezug und ohne Bettdecke. Hätte man ihn nicht verlegen können, wenn es zumindest eine Bettdecke gibt?", fragt Martina Droste.
Chris Weinheimer und Martina Droste haben Beeindruckendes geleistet: Sie haben eine große Gruppe Jugendlicher, die meisten ohne Schauspielerfahrung, viele fast ohne deutsche Sprachkenntnisse, innerhalb von acht Wochen zu einem kleinen Ensemble gemacht. 'Frankfurt Babel' ist aktuell, philospohisch und authentisch. Die Jugendlichen sind den Zuschauern offen - ohne bloß zu stehen.
Der letzte Satz des Stücks, Ronja rezitiert Oscar Wilde, zeigt, worauf es ankommt: "Glaubt mir, wenn ich Euch sage, am Ende wird alles gut. Und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende."
Aufgeführt wird 'Frankfurt Babel' zwischen dem 29. November und dem 19. Dezember insgesamt zehn Mal.