Die Attentate von Paris werfen erneut die Frage nach der Rolle der Religionen auf. Die Meinungsführer sind sich einig: Der Terrorismus des sogenannten "Islamischen Staates" lässt sich aus den Quellen der Religion des Islams nicht rechtfertigen. Muslime in aller Welt verurteilen zurecht die Terrorattacken und sind empört über den fundamentalistischen Missbrauch ihrer Religion. Aber das Vertrackte ist: Die religiösen Fanatiker des "Islamischen Staates" haben diese Religion in eine Art Geiselhaft genommen, wenn sie sich zur Begründung ihrer Gräueltaten auf den Islam berufen. Gegen die terroristische Vereinnahmung ihres Glaubens sind die Muslime, die Gelehrten, die Moschee-Gemeinden und islamischen Verbände machtlos, wenn man das Wort "Macht" wörtlich nimmt. Sie können nur durch Worte und Taten, durch Kritik und Aufklärung für die humane Grundeinstellung ihrer Religion werben und die Menschen überzeugen.
Es wäre aber vermessen und unrealistisch, die Terrorismus-Prävention allein den Vertretern des Islams zuzuschieben. Dies ist primär Aufgabe von Polizei und Politik, denn die tiefer liegenden Ursachen für den gewaltbereiten Fundamentalismus sind nicht religiöser, sondern sozialer Natur. Den überwiegend jungen Attentätern fehlt es doch vor allem an politischer Bildung und an Bindung an diejenigen Grundwerte, die ein Leben in Freiheit und Vielfalt begründen und möglich machen. Prävention durch Überzeugung und Integration ist daher eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft und ihrer politischen Führung. Dazu kommt: Die instabile Lage im Nahen und Mittleren Osten ist durch das inkonsequente und unentschlossene Handeln der Völkergemeinschaft mitverursacht worden.
Es sind die politischen Fehleinschätzungen und -entscheidungen der letzten Jahre gewesen, die in Libyen, im Irak und in Syrien politische Vakua erzeugt haben, in die der "Islamische Staat" nun hineinströmt und seine perfide Anziehungskraft auf Abenteurer und Verbrecher ausübt. An diesen Vorgängen waren alle westlichen Staaten mitbeteiligt und daher kann auch die Lösung dieses Problems nur mit vereinten politischen Kräften erfolgen. Dazu sind die Bündelung der freiheitsliebenden und friedenswilligen Kräfte in den Zivilgesellschaften, weitsichtige Diplomatie und nötigenfalls auch militärische Intervention erforderlich. Diese allerdings muss das Ziel haben und sicherstellen, dass rechtlich geordnete Verhältnisse in dieser Region wieder hergestellt werden und die Mörder und ihre Anstifter mit rechtstaatlichen Mitteln zur Rechenschaft gezogen werden.
Im Zuge solcher Anstrengungen können die Gläubigen aller Religionen, die Kirchen und die religiösen Gemeinschaften mitwirken, in ökumenischer und interreligiöser Verbundenheit. Es geht darum, der Terrorismusabwehr und der internationalen Friedenspolitik eine weltgesellschaftliche Basis zu geben. Worin besteht sie? Die besondere Bedeutung der großen Weltreligionen liegt darin, dass ihr Ethos und ihre Heilsversprechen grenzüberschreitend und inklusiv sind. Grundsätzlich transzendiert der Glaube ethnische, nationale und kulturelle Grenzen und betont die Gleichheit und Zusammengehörigkeit aller Menschen. Judentum, Christentum und Islam eint ein egalitäres Menschheitsideal, das in diesen Zeiten fruchtbar zu machen ist.
Grenzüberschreitendes Potenzial der Religionen
Dieses ideelle Potenzial der Religionen wäre dem Terrorismus entgegenzuhalten, der Grenzen zieht, diskriminiert und tötet. Das grenzüberschreitende Potenzial der Religionen kann aber auch dem politischen und gegebenenfalls auch dem militärischen Handeln ein Fundament geben. Ein solches Fundament benötigt die internationale Politik, in der harte Interessenskonflikte immer eine Rolle spielen werden. Der Glaube, der in den Religionen kultiviert wird, kann den politischen Akteuren, die bei aller guter Absicht in der Abwehr des Bösen immer auch die besonderen Interessen ihrer Länder zu berücksichtigen haben, zeigen, dass es ein im Gottesgedanken begründetes Interesse daran gibt, diese Sonderinteressen zurückzustellen, um den Weg frei zu machen für die dringend erforderliche Lösung derjenigen Krisen, die Ursachen für den Terrorismus sind.
Um ihrer den Frieden fördernden Aufgabe nachkommen zu können, müssen die Religionen indes selbst glaubwürdig sein. An diesem Punkt gibt es Nachholbedarf! Wie können Religionen nach außen auf Frieden hinwirken, wenn sie im Inneren intolerant sind und keine zivilisierte Streitkultur pflegen, vielmehr sich die Gläubigen untereinander verachten, ausgrenzen und bekämpfen? Christen haben an diesem Punkt den Muslimen höchstens zeitlich etwas voraus. Jahrhundertelang haben sich auch Christen untereinander bekämpft. Der ökumenische Friede, der gegenwärtig zwischen den Konfessionen glücklicherweise herrscht, wurde über Jahrhunderte aufgebaut. Dies geschah mit wesentlicher Unterstützung durch Politik und Recht. Diesen Weg hat der weltweite Islam noch vor sich. Aber es liegt im Interesse der zivilisierten Welt, die Muslime auf diesem Weg interreligiös und politisch zu unterstützen. Nur auf diese Weise wird man den Islam aus der Geiselhaft der Terroristen befreien können und dem Frieden ein Stück näher kommen.