Herr Siggelkow, Sie sind in den 60er Jahren in Hamburg-St. Pauli aufgewachsen. Haben Sie noch Erinnerungen an Ihre Kindheit?
Bernd Siggelkow: Nicht so viele, denn was man nicht so schön findet, verdrängt man auch sehr leicht. Als ich sechs Jahre alt war, ist meine Mutter weggegangen. Mein Leben hat sich viel darum gedreht, dass ich auf der Straße rumgehangen oder den Haushalt für meine krebskranke Oma gemacht habe.
Welche Vision hatten Sie, als Sie die "Arche" in Berlin-Hellersdorf gegründet haben?
Siggelkow: Hellersdorf wurde 1986 für junge Familien gebaut und war der kinderreichste Bezirk Europas. Aber die vielen Kinder hatten wenige Möglichkeiten. Ich wollte einen Ort schaffen, an dem sie nicht Programme, sondern Menschen erleben. Gerade Kinder, die in ihren Familien wenig Liebe und Unterstützung erfahren.
Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt?
Siggelkow: Sie haben sich überschlagen! Die erste "Arche" mit 20 Kindern habe ich in meinem Wohnzimmer gegründet. Explodiert ist das Projekt dann, weil wir als eine der ersten Organisationen in Deutschland erkannt haben, dass manche Kinder zu Hause nicht richtig grundversorgt werden und hungrig sind. Oder dass ihre Eltern sie schulisch zu wenig fördern.
Hat sich an dem Problem der Kinderarmut in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren etwas verändert?
Siggelkow: Die Anzahl der Kinder in finanzieller Armut hat sich seit dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht 2001 von 1,2 auf 2,5 Millionen verdoppelt. Und die Chancenungleichheit unter Kindern wird noch größer, weil die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr auseinanderklafft. Die "Arche" hat das Thema Kinderarmut salonfähig gemacht und gezeigt, dass man Sozialarbeit mit einer professionellen Nähe leben muss. Vor allem bei traumatisierten und verhaltensauffälligen Kindern ist Liebe der Schlüssel zum Herzen.
Viele sagen, dass Bildung der Schlüssel aus der Armut ist.
Siggelkow: Das ist kompletter Blödsinn. Ein Kind, das zu Hause keine Liebe bekommt und emotional verwahrlost ist, wird auch nicht lernen, denn es hat keine Perspektive. Wenn die Kinder zu uns kommen, fragen sie nicht als erstes, wer mit ihnen Hausaufgaben machen kann. Sie fallen den Mitarbeitern um den Hals, um sich ein Stück Liebe abzuholen.
"Ein Kind, das in Berlin Abitur macht und dann nach Bayern geht, wird immer noch freundlich ausgelacht."
Hat Armut heute ein anderes Gesicht als noch vor 20 Jahren?
Siggelkow: Zur finanziellen Armut von Kindern kommt eine emotionale Verarmung. Mittlerweile hat jedes Kind in seinem Zimmer einen eigenen Fernseher und Computer. Den Tisch, an dem eine Familie früher gemeinsam gegessen und kommuniziert hat, gibt es nicht mehr. Dadurch ist die emotionale Armut gewachsen und übrigens auch die Verwahrlosung in vielen Wohlstandsfamilien. Es gibt Kinder mit 50 Euro in der Tasche und trotzdem ist niemand für sie da. Und ich glaube, das ist das größere Problem: dass Kinder mit sich alleine beschäftigt sind und nicht wissen, wo ihr Halt ist.
Frustriert es Sie, dass Sie die Politik immer wieder mit denselben Fakten konfrontieren müssen?
Siggelkow: Ich bin ja kein Mensch, der etwas fordert und nichts tut. Politik denkt eben häufig nur für die vier Jahre einer Legislaturperiode und versucht mit kleinen Mitteln Dinge zu verändern, zum Beispiel mit Bildungspaketen. Die kommen aber nicht an. Wir haben 50 verschiedene Schulsysteme und ein Kind, das in Berlin Abitur macht und dann nach Bayern geht, wird immer noch freundlich ausgelacht. Das hat wohl noch niemand so richtig erkannt oder erkennen wollen.
In den ersten Jahren war auch das Geld der "Arche" oft knapp. Heute unterstützen zahlreiche Prominente Ihre Einrichtungen. Wie haben Sie es geschafft, dieses Netzwerk aufzubauen?
Siggelkow: Wir sind keine Organisation, die Überweisungsträger verschickt, sondern wir versuchen mit unserer Arbeit transparent zu sein. Unsere prominenten Unterstützer sind von sich aus auf uns zugekommen, weil sie von der "Arche" gehört haben. Auf der anderen Seite ist es für uns immer noch jedes Jahr eine Herausforderung, das nötige Geld zusammenzubekommen. Alleine für die 20 Einrichtungen in Deutschland brauchen wir über acht Millionen Euro. Wenn dann in der Zeitung steht, dass uns ein Prominenter 250.000 Euro gespendet hat, klingt das gut, aber bei acht Millionen ist das nur ein kleiner Schritt.
"Als eine Gruppe von zehn Christen aus Amerika zu Besuch kam, haben sich die Kinder gewundert, dass es so viele Christen auf der Welt gibt."
Wie oft besuchen Sie die Standorte der "Arche"?
Siggelkow: Früher war ich jede Woche irgendwo, aber je mehr ich in einer Einrichtung bin, desto größer ist die Bindung an die Kinder und ich mag sie nicht enttäuschen. Wir haben Regionalleiter, die ihre "Archen" regelmäßig besuchen. Und meine Arbeit hat sich in zwei Jahrzehnten auch sehr verändert. Ich halte Vorträge und versuche mich auf die Kinder zu konzentrieren, die in meinem Berliner Umfeld sind. Es kommen ja auch immer mehr. Da wird es mir nicht gelingen, allen 4.000 Kindern in Deutschland das zu geben, was ich gerne geben möchte. Dafür habe ich meine Mitarbeiter.
Kennen Sie jeden Ihrer 180 Mitarbeiter persönlich?
Siggelkow: Die direkt am Kind arbeiten, kenne ich alle. 90 Prozent der pädagogischen Mitarbeiter sind Erzieher oder Sozialpädagogen. Wir haben aber auch Mitarbeiter, die keinen akademischen Abschluss haben. Eine Mutter kann schließlich auch eine sehr gute Pädagogin sein, ohne dass sie es studiert hat.
Bis 1997 standen Sie als evangelikaler Pastor auf der Kanzel. Hellersdorf ist ein sehr atheistischer Bezirk...
Siggelkow: Als ich hierherkam gab es kein Kind, das mir sagen konnte, wer der Mann am Kreuz ist. Und als eine Gruppe von zehn Christen aus Amerika zu Besuch kam, haben sich die Kinder gewundert, dass es so viele Christen auf der Welt gibt. Wir können ihnen nicht die Bibel um die Ohren hauen, aber wir vermitteln christliche Werte wie Toleranz oder Nächstenliebe. Kinder wollen Leitlinien, sie wollen Vorbilder, sie wollen Grenzen.
Wie prägt Ihr Glaube die Arbeit mit den Kindern?
Siggelkow: Ich habe in den letzten 20 Jahren drei Kinder beerdigt. Ich habe viel mit sexuellem und psychischem Missbrauch zu tun. Wir als Mitarbeiter kommen oft an unsere Grenzen der Belastbarkeit. Ohne Fundament würde diese Arbeit nicht funktionieren und das Fundament meines Lebens ist mein Glaube. Manchmal kotze ich mich im Gebet aus, weil ich mit manchen Dingen nicht klarkomme, aber der Glaube gibt mir Halt. Den Kindern sage ich nicht, dass sie an Gott glauben müssen, aber ich kann ihnen vermitteln, dass es jemanden gibt, der sie nicht nur wertschätzt, sondern an sie glaubt. Und darum geht es doch eigentlich: dass sie etwas erfahren, das ihnen Hoffnung und Mut macht.
Vor wenigen Wochen hat die 20. deutsche Arche in Berlin-Treptow eröffnet. Wie sehen Sie die Zukunft?
Siggelkow: Meine Hoffnung ist eigentlich, dass die "Arche" schließt, weil kein Kind mehr arm aufwächst. Aber dazu muss sich noch vieles im gesellschaftlichen Denken verändern.