Frankfurt a.M. (epd)Als Jannis (12) plötzlich fast jeden Tag aufs Laufband ging und zusätzlich auch noch täglich eine halbe Stunde Situps für seine Bauchmuskulatur machte, fingen seine Eltern an, sich Gedanken zu machen. "So richtig sportbegeistert war er vorher eigentlich nie. Und dann hat er sich innerhalb kürzester Zeit ein echt heftiges Trainingsschema aufgestellt", sagt seine Mutter. Es kam immer häufiger zu Auseinandersetzungen mit den Eltern, wenn er mal aus terminlichen Gründen auf den Sport verzichten sollte. "Uns war da klar: Er ist süchtig nach Sport. Er braucht das, sonst fühlt er sich schlecht."
Sport dominiert Leben
Eine Umfrage unter 1.100 erwachsenen Ausdauersportlern ergab 2013, dass knapp fünf Prozent sportsuchtgefährdet sind. Bei ihnen dominiert der Sport das Leben, Betroffene blenden Erschöpfungssignale aus, trainieren bis zum Umfallen, werden gereizt, wenn sie keinen Sport betreiben können.
Wie viele Jugendliche in Deutschland betroffen sind, darüber gibt es keine belegten Zahlen und auch kaum verlässliche Schätzungen. "Leider ist dieser Bereich noch wenig erforscht, was ich allerdings sehr erstaunlich finde, denn das ist ein Riesenthema", sagt Petra Sobanski von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik des Städtischen Klinikums München. Die Chefärztin, die in ihrer Sprechstunde regelmäßig mit diesem Problem zu tun hat, geht von einer "sehr hohen Dunkelziffer" aus.
Vor allem Jungen fühlten sich von Fitness-Studios angezogen. Viele Betreiber wenden sich in ihrer Werbung auch ganz gezielt an Jugendliche. Sie stellten ihnen einen eigenen Trainer in Aussicht, der sie mit Sätzen lockt wie: 'Wir definieren jetzt ganz gezielt einen bestimmten Bereich deines Körpers', etwa Brust, Bauch oder Po.
"Das ist extrem kritisch zu betrachten", sagt Sobanski. Denn Jugendliche, die sich gerade in der Pubertät befänden und eher unsicher seien, bekämen so das Gefühl, auf diese Weise endlich Macht und Kontrolle über den eigenen Körper zu erlangen. "Und ein gestählter Körper macht natürlich selbstbewusst", sagt die Kinderärztin.
Unsichere Identitätsbildung
"Die Pubertät ist eine Lebensphase, in der häufig der Einstieg in die Sportsucht stattfindet", sagt auch der Sportsoziologe Robert Gugutzer von der Universität Frankfurt. In einer zunehmend ambivalenten Welt falle es Jungen immer schwerer, eine männliche Identität zu entwickeln. "Je unsicherer die Identitätsbildung ist, desto mehr greifen sie auf eindeutige Identitätsangebote zurück. Und Männlichkeit wird nun mal mit Muskeln identifiziert."
Zudem gebe es nicht wenige Jungen, die Gewalterfahrungen gemacht hätten, sei es auf dem Schulhof oder auch in der eigenen Familie. "Sie wollen nie wieder in eine solche Situation der Hilflosigkeit geraten und stählen deshalb ihren Körper zum Panzer."
Das kann auch Petra Sobanski bestätigen. Oft sei die Sportsucht nur ein Symptom, das das darunterliegende Problem verdecke: etwa Schwierigkeiten zu Hause, in der Schule oder in einem anderen sozialen Kontext.
Viele Jugendlichen klammerten sich an den Sport wie an einen Rettungsanker. So bekommt Sobanski in ihrer Sprechstunde oft zu hören: "Nehmen Sie mir das bitte nicht weg, sonst hab ich nichts mehr."
Besonders problematisch wird es, wenn die betroffenen Jugendlichen auch noch zusätzlich auf ihre Ernährung fixiert sind und gezielt immer weiter abnehmen. "Jannis hielt uns immer vor, für ein Sixpack dürfe man kein Fett zu sich nehmen, sondern nur gesunde Kohlenhydrate", erinnerte sich seine Mutter. "Plötzlich mussten wir um jedes Gramm feilschen, das er zu sich nahm. Mit der Folge, dass er unheimlich schnell spindeldürr wurde."
An sich Sport etwas Positives
Petra Sobanski rät Eltern dazu, sich bloß nicht zu spät einzuschalten und ihr Kind aufmerksam zu beobachten. "Sprechen Sie es darauf an, etwa: 'Ich mache mir Sorgen um dich. Was ist mit dir los?'" Dabei sollten Eltern klare Regeln und Vereinbarungen aufstellen, an die sich der Jugendliche zu halten hat. "Man kann etwa einen 'Gewichtsvertrag' abschließen, in dem es heißen könnte: 'Wenn du bis nächste Woche nicht ein Kilo zugenommen hast, dann streiche ich dir den Sport.'
Marion Sulprizio, Leiterin der Initiative MentalGestärkt vom Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln, rät Eltern dazu, sich um einen guten Austausch und eine gute Bindung zum Kind zu bemühen. So könnten sie die Beweggründe der Jugendlichen besser verstehen, aber wenn nötig auch Grenzen setzen. Auch der Kinderarzt könne besorgte Eltern unterstützen und ihn gegebenenfalls an einen Therapeuten überweisen.
Kinderärztin Sobanski warnt jedoch davor, Fitness-Studios und regelmäßiges Training generell zu verteufeln: "An sich ist Sport erst einmal etwas Positives. Zudem unternehmen die Jugendlichen etwas, sie treffen sich dort mit Freunden und sitzen nicht den ganzen Tag am Computer herum." Sie rät Eltern aber dazu, ein Studio sorgfältig auszusuchen und zu schauen, wer die Jugendlichen betreue.
Jannis hat mittlerweile die Schule gewechselt und fühlt sich in seiner neuen Klasse deutlich wohler. "Und plötzlich wurde auch das Laufband wieder deutlich unattraktiver", sagt seine Mutter.