Betten füllen den Raum im Erdgeschoss des Paulusheims weitgehend aus. Rollstühle verengen zudem den schmalen Streifen zwischen den Betten und den Fenstern, die komplett verhängt sind. Rundum hängt oder liegt Kleidung in allen Farben und Größen. Die Heizung arbeitet auf vollen Touren. Die Wärme vermittelt ein Gefühl von Geborgenheit. Für die fünfköpfige albanische Roma-Familie K. ist der Aufenthalt in der Flüchtlingsunterkunft im Bonner Stadtteil Endenich ein real gewordenes Stück Hoffnung. "Von Deutschland erwarten wir alles", sagt die 29-jährige Anila K., "im Grunde ein neues Leben." Ihr Ehemann Enve, zwei Jahre jünger, pflichtet ihr bei: "Ein festes Dach über dem Kopf, ein normales Familienleben, medizinische Versorgung."
Auf dem Fensterbrett läuft der Fernseher. Werden Werbespots gezeigt, könnte die Diskrepanz nicht größer sein. Bunte Bilder gaukeln ein Leben voll von Wohlstand und Mobilität vor. Für die muslimische Familie, fünf von derzeit 185 Bewohnern des ehemaligen Altenheims aus unterschiedlichen Krisenregionen, utopisch. Die junge Mutter und zwei der drei Kinder im Alter von sieben bis elf Jahren leiden an Muskelschwund. Sie sind auf Hilfe angewiesen, sei es auf die von Enve, sei es auf fremde. In Tirana haben sie als Roma keine Chance auf ärztliche Betreuung. Sie hätten, erzählen sie, in einem Container gelebt, abgeschnitten von einem Leben in Würde, von Bildung und Förderung. Ihre Bonner Zuflucht empfinden sie wie ein Stück vom Paradies.
In Albanien wie in den Ländern des Westbalkans gehört die Mehrheit der Roma zu den am stärksten benachteiligten sozialen Schichten. Zeljko Jovanovic sagt über die als "Zigeuner" diskriminierte Bevölkerungsgruppe im Interview: "Es handelt sich um eine Minderheit, die in allen Ländern aus den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Organisationsformen ausgeschlossen wird." Jovanovic ist Direktor des Büros für Roma-Initiativen der Open Society Foundation in Budapest, einer Nicht-Regierungs-Organisation (NGO). Für die Lebensumstände der Roma wie aller Bürger auf dem Balkan sind nach Ansicht des Journalisten und Balkan-Experten Zoran Arbutina in erster Linie die jeweiligen Nationalstaaten zuständig. Sie seien jedoch ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. Roma, betont er, würden "als Bürger zweiter Klasse behandelt. Nicht nur von den staatlichen Strukturen, sondern auch im Bewusstsein vieler Menschen." Wo auch die Mehrheitsbevölkerung leide, seien Roma besonders arm dran. "Es wundert daher nicht", gibt Arbutina zu bedenken, "dass sie sich auf den Weg nach Westen machen. Viele kommen, obwohl sie wissen, dass sie nicht dauerhaft bleiben können. Sie wollen bloß überwintern." Erleichtert werde ihnen dies durch die Aufhebung der Visumspflicht für Menschen aus Serbien, Mazedonien oder Albanien bei der Reise nach Deutschland.
Im ersten Stock des Heims herrscht emsiger Betrieb. Neonröhren tauchen den langen Gang in ein fahles Licht. Gestelle mit Hosen, Röcken, Sakkos und Schuhen werden hin und her bewegt, rasch begutachtet. Dreimal pro Woche werden Kleiderspenden entgegengenommen. "Lassen Sie Ihren Koffer auch hier?", fragt eine Frau. Begehrt ist alles, was man für die Reise gebrauchen kann. Die Sach- und Kleiderspenden sind Teil der Flüchtlingshilfe Paulusheim. Diese wurde von der Evangelischen Trinitatiskirchengemeinde in Endenich vor eineinhalb Jahren initiiert, gemeinschaftlich mit der Katholischen Nachbargemeinde St. Maria Magdalena. "Es war uns wichtig", unterstreicht Pfarrer Uwe Grieser, "gemeinsam deutlich zu machen, dass wir für eine Willkommenskultur eintreten." Inzwischen umfasst das aus einem ökumenischen Arbeitskreis hervorgegangene Engagement Deutschkurse, Sport- und Freizeitmöglichkeiten für Erwachsene und Kinder sowie die Vermittlung von Patenschaften und die Unterstützung bei Angelegenheiten mit den Ämtern.
Kern der Flüchtlingshilfe sind die rund 50 Ehrenamtlichen beider Kirchen. "Ohne sie, ihre Zeit und ihre Kompetenzen", sagt Grieser, "wäre vieles nicht möglich." Ob das Engagement der Ehrenamtlichen und die Fürsorge der Stadt für die Familie K. letztlich zu einem guten Ende führen können, ist freilich völlig ungewiss. Ihre Lage mag prekär sein, ein Einzelfall ist sie keineswegs. Albanien ist gerade nach Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina, genau wie der Kosovo und Montenegro zu einem sogenannten sicheren Herkunftsland erklärt worden. Ungeachtet dessen stellen Albaner unter den offiziell in diesem Jahr bis Oktober in Deutschland registrierten 758.000 Flüchtlingen die zweitgrößte Gruppe dar, nach den Syrern. Alarmierend wie wenig überraschend: Unter den Asylbewerbern vom Westbalkan gehört jeder dritte den Roma an. Besonders hoch ist der Roma-Anteil unter den Asylbewerbern aus Serbien (90 Prozent im ersten Quartal), gefolgt von Mazedonien (72) und Bosnien (60). Arbutina: "Die Roma sind in ihrer Heimat zwar oft benachteiligt. Anspruch auf Asyl aber bedeutet das nicht." Diskriminiert also ja, aber nicht politisch verfolgt. Das belegen auch die extrem geringen Asyl-Anerkennungsquoten von Zuwanderern aus Belgrad, Skopje oder Tirana.
In der Debatte um die Flüchtlingskrise ist zu hören, die aus dem Westbalkan Zuflucht Suchenden nähmen den aus Kriegs- und Krisengebieten Geflohenen, den "echten Flüchtlingen", die knapper werdenden Plätze weg. Daher sei auch die rechtlich mögliche vorübergehende Duldung des Aufenthalts, etwa aus humanitären Gründen, von den Behörden restriktiv auszulegen. Arbutina widerspricht: "Es ist immer ein mieses Spiel, die Not der Bedürftigen gegeneinander auszuspielen. 'Syrer gegen Roma' kann keine zivilisierte, humanistische und europawürdige Antwort auf die Flüchtlingsfragen sein." Ähnlich argumentiert Dušan Relji?, Büroleiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Brüssel: "Die Zahl der Roma aus dem Westbalkan, die in den letzten 18 Monaten nach Deutschland gekommen sind, ist wahrscheinlich zwanzig Mal geringer als die der Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen Osten." Die Roma seien im zweiten Weltkrieg von der deutschen Besatzungsmacht auf dem Balkan genauso unvorstellbar grausam behandelt worden wie Juden oder Mitglieder des Widerstands. "Entschädigung", führt Relji? an, "haben sie nie erhalten." Moralisch wünschenswert sei es, ihnen zumindest einen Bruchteil der Wiedergutmachung zu Gute kommen zu lassen.
Zum politischen Konsens hierzulande gehört die Erkenntnis, die Fluchtursachen dort zu bekämpfen, wo sie entstehen. In dieser Sichtweise wären Programme mit dem Ziel sinnvoll, die Lebensverhältnisse von Roma in Europa nachhaltig zu verbessern. So gedacht wurde auch schon vor Jahren - bereits 2005 - mit der Gründung des Roma Education Fund als Teil der von der Weltbank und vom Open Society Institute (OSI) angeregten und von zehn Regierungen beschlossenen Roma-Dekade. Doch die eingesetzten Gelder versickerten zum großen Teil, vor allem in Folge von Korruption. Deutschland und die übrigen EU-Staaten, unterstreicht Arbutina, könnten und sollten finanziell weiter helfen. Sie müssten sich aber darum kümmern, "dass das Geld effizient, zweckmäßig und gerecht eingesetzt wird. Dabei ist auch wichtig, keinen Neid der Mehrheitsbevölkerung zu schüren." Die EU, regt er an, brauche einen Roma-Beauftragten oder gar einen Roma-Kommissar.
Reljic verweist auf die wachsende Zahl von Anwärtern auf staatliche Programme seit Ausbruch der europäischen Finanzkrise, von Rentnern, Kriegsveteranen, Flüchtlingen. Benachteiligte müssten daher offensiver werden. Überall dort, wo Roma ein wenig politischen Druck entwickelt hätten, so über eigene politische Parteien oder mit Hilfe von NGO‘s, "bekommen sie allerdings mehr vom staatlichen Kuchen". Für die Familie K. aus Tirana kann dies kein Trost sein. In der Bonner Zuflucht werden bald die Lichter gelöscht. Morgen ist ein neuer Tag, wieder einer zwischen Hoffen und Bangen.