Berlin (epd)Eine Weltmacht wie China sollte nach den Vorstellungen von Selmin Caliskan auch daran gemessen werden, wie sie ihren Pflichten nachkommt. Dazu gehöre die Achtung der Menschenrechte, betont die Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International. Von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erwartet sie ein klares Wort zu den Missständen in China, wenn sie das Land vom 28. bis 30. Oktober besucht. Es sei eine Frage der Glaubwürdigkeit.
epd: Frau Caliskan, Bundeskanzlerin Angela Merkel reist nach China. Was würden Sie ihr gerne mit auf den Weg geben?
Selmin Caliskan: Aktuell macht uns vor allem eine Repressionskampagne gegen Anwältinnen und Anwälte Sorgen, die von den Behörden im Juli gestartet wurde. Bisher sind über 200 Rechtsanwälte und sie unterstützende Aktivisten betroffen. Eine Reihe von ihnen ist seither in Haft oder verschwunden. Die deutsche Regierung führt seit Jahren einen Rechtsdialog mit dem Ziel, rechtliche Reformen in China zu fördern. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, dass sich die Bundesregierung dann auch für diejenigen einsetzt, die in China verfolgt werden, nur weil sie das getan haben, was man von Rechtsanwälten in einem Rechtsstaat erwarten würde.
epd: Die Menschenrechtssituation in China hat sich offenbar wieder stark verschlechtert, nachdem es zu den Olympischen Spielen 2008 in Peking hoffnungsvolle Zeichen gegeben hatte. Wie ist Ihre Einschätzung?
Caliskan: Wir haben die Entwicklung der Menschenrechtssituation im Umfeld der Olympischen Spiele bereits zuvor sehr viel kritischer beurteilt. Wir möchten hier an die Niederschlagung der Unruhen unter den Tibetern im Frühjahr 2008 erinnern. Seit 2013 eine neue Führung unter Staatspräsident Xi Jingping an die Macht kam, beobachten wir eine Zunahme der Repressionen und eine Einschränkung der Freiheiten.
epd: Was sind die Gründe für die Missachtung der Menschenrechte?
Caliskan: Das aktuelle Vorgehen gegen die Anwälte aber auch die jahrelangen Repressionen gegen Anhänger ethnischer Minderheiten wie die Tibeter und Uiguren sowie die Anhänger religiöser Minderheiten und spiritueller Bewegungen wie Falun Gong zeigt Folgendes: Die Regierung nimmt schwere Menschenrechtsverletzungen in Kauf, wenn sie Behörden anweist, gegen aus Sicht der politischen Führung und der Partei missliebige Personen vorzugehen.
Hinzu kommt der fehlende Schutz der Rechte derer, die bei den zahlreichen sozialen Konflikten auf der Verliererseite stehen. Zwangsvertreibungen waren bereits vor den Olympischen Spielen ein Problem. Aus den vielen Berichten, die uns erreichen, schließen wir, dass heute noch mehr Menschen mit teils brutalen Methoden aus ihren Wohnungen vertrieben werden.
epd: Gleichzeitig werden viele Menschen in China immer mutiger. Trotz der Repression gibt es lebhafte Diskussionen in sozialen Medien. Sehen Sie das auch so?
Caliskan: In vielerlei Hinsicht ist China in den letzten Jahrzehnten ein sehr viel freieres Land geworden. Dies sollte uns aber nicht zur Annahme verleiten, dass es mit der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung des Landes automatisch zu einer Verbesserung der Menschenrechte kommt. Auch wenn immer mehr Chinesen und Chinesinnen Zugang zu sozialen Medien haben und diese auch für kritische Diskussionen nutzen, so müssen auch in Zukunft Internetnutzer befürchten, dass sie verfolgt werden, wenn sie aus Sicht der Behörden das Internet "missbrauchen". Jahrelange Haftstrafen drohen, weil Straftatbestände wie "Aufwiegelung zum Umsturz der Regierung" oder "Weitergabe von Staatsgeheimnissen" in China so weit gefasst sind.
epd: China ist ein Global Player. Das Land wird für die Stabilisierung der Weltwirtschaft, zur Eindämmung des Klimawandels und zur Lösung der Syrien-Krise gebraucht. Was ist der richtige Umgang des Westens mit Peking?
Caliskan: Gerade wenn man China als Weltmacht ernst nimmt, sollte man darauf achten, dass China den eigenen Verpflichtungen nachkommt. Dazu zählt eben auch die Verpflichtung auf die Menschenrechte. Wenn Deutschland dies nicht konsequent vertritt, schwächt dies die Glaubwürdigkeit von Ländern wie Deutschland und von Europa insgesamt, wenn sie mit Partnern wie China verhandeln. Es wäre falsch, verschiedene Interessen so gegeneinander auszuspielen, dass aus der Pflicht zur Förderung der Menschenrechte unverbindliche Lippenbekenntnisse werden.
epd: Auch Arbeitsplätze in Deutschland hängen vom China-Geschäft ab. Wie fällt Ihre Bilanz der deutschen Chinapolitik aus?
Caliskan: Die Frage suggeriert, dass es einen Widerspruch zwischen dem Engagement für Menschenrechte und den wirtschaftlichen Interessen gibt. Ein besserer Schutz der Menschenrechte und dafür wichtige Voraussetzungen, wie etwa rechtsstaatliche Strukturen, würden gerade auch der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zugutekommen. Auch eine verantwortungsvolle Unternehmenskultur kann entscheidender Faktoren bei der Etablierung der Menschenrechte sein.
epd: Was ist besser, um für verfolgte Dissidenten in China etwas zu erreichen: Stille Diplomatie oder offener Protest?
Caliskan: Eine Menschenrechtspolitik, die konkrete Verbesserungen der Situation zum Ziel hat, bedarf nach unserer Erfahrung verschiedener Instrumente. Nicht in allen Fällen ist es angemessen, die öffentliche Konfrontation zu suchen. Dennoch halten wir es für wichtig, dass die Bundeskanzlerin auch öffentlich zu den Missständen in China Stellung bezieht und sich klar für einen besseren Schutz der Menschenrechte ausspricht.