Cannes (epd)Wie der Mistral, das ein oder andere Skandälchen und der Rote Teppich gehört zum Filmfestival von Cannes die These vom Tod des Autorenkinos. Üblicherweise zum Auftakt polemisch vorgebracht, feiert man gen Ende des Festivals ein ums andere Mal die Langlebigkeit des Totgesagten. Cannes 2015 - das war erneut ein Wettbewerb voller Filme, die die Tugenden des Autorenkinos in seiner besten Form verkörpern.
Die Wiederkehr der immer gleichen Namen
Dazu gehörten wieder lauter Namen, die zum festen Stamm des Internationalen Kunstkinos gehören oder aus dem warmen Nest des westeuropäischen Fördersystems stammen. Bezeichnenderweise gab es nur einen einzigen Regiedebütanten, den Ungarn Laszlo Nemes, mit seinem Holocaust-Drama "Son of Saul". Doch spricht es für die Fähigkeit des Autorenkinos, auch Nachwuchs zu erzeugen, dass nun ausgerechnet "Son of Saul" als einer der Hauptfavoriten auf eine Goldene Palme gilt.
Trotzdem machte sich in diesem Jahr stark bemerkbar, dass die Beschränkung auf die immer gleichen Namen auch zu einer Verengung der Themen führt. So dominierten persönliche Geschichten: Erzählungen über Liebe und deren Verlust, über den Tod und die Angst davor. Laszlo Nemes' "Son of Saul" gehört auch diesbezüglich zu den Ausnahmen: Sein im Konzentrationslager Auschwitz im Winter 1944 angesiedeltes Drama um einen Juden, der als Teil des Sonderkommandos Aufräumarbeiten rund um die Gaskammer leisten muss, überzeugte mit seinem strengen Ansatz, den Zuschauer mit steten Blick auf den Helden mitten ins schreckliche Geschehen zu werfen und keine Distanzierung zu gewähren. Als Publikums- oder Kritikerliebling eignet sich ein solcher Film wenig.
Vielleicht gerade deshalb fielen die Sympathiebekundungen der Kritiker für Todd Haynes' makelloses Drama "Carol", den zweiten Favoriten auf die Goldene Palme, so heftig aus. "Carol" ist im besten Sinne ein gefälliger Film. Die Liebesaffäre einer verheirateten Dame von gesellschaftlichem Ansehen und einem einfachen Ladenmädchen im Amerika der 50er Jahre zeigt Haynes so stilvoll unterkühlt und mit so viel Hingabe zum Detail, dass der Film schon als bloßer Augenschmaus sein Publikum finden wird.
Letzteres sieht beim anderen Kritikerliebling, "The Assassin" des Regiemeisters Hou Hsiao-sien aus Taiwan, schon anders aus. "The Assassin" ist im Setting und in den Kostümen ein Martial-Arts-Film, doch Hou verweigert die Genrekonventionen radikal. Wo sonst im Genre Lärm gemacht wird, Schwerter und Menschen durch die Luft fliegen, inszeniert Hou in zauberhafter Schönheit Momente von großer Stille und Unbewegtheit. "The Assassin" ist ein Film, aus dem viele Festivalbesucher rausgehen; die, die bleiben aber spenden umso heftiger Beifall.
Flüchtlingsfiguren wichtiger als Immigrationsland
Fast die einzige Geschichte, die sich außerhalb persönlicher Dramen oder Selbstbespieglung im Genrekino abspielte, war Jacques Audiards "Dheepan". Er erzählt von einem Mann, einer Frau und einem Mädchen aus Sri Lanka, die mit falschen Pässen als eine Familie nach Frankreich einreisen und dort im schwierigen Milieu einer Banlieue versuchen heimisch zu werden. Abseits der üblichen Klischees gelingt es Audiard, seine Figuren interessant und real zu machen, und behandelt so das aktuelle Flüchtlingsthema auf eine Weise, in der endlich einmal die Figuren wichtiger sind als das Land, in das sie kommen. Ob Audiard damit der Jury unter dem Vorsitz der Coen-Brüder eine Palme wert sein wird, gilt als eher unwahrscheinlich. Gehandelt werden neben den drei Hauptkandidaten eher Filme wie "The Lobster" von Yorgos Lanthimos oder "Youth" (Paolo Sorrentino).
Große Auswahl an preiswürdigen Schauspielern
Das Feld der für eine Auszeichnung in Frage kommenden Schauspieler ist diesmal reich bestellt. Hier steht Cate Blanchett für "Carol" weit vorne, aber es gibt auch eine Fülle an weiteren würdigen Kandidatinnen, angefangen von der Chinesin Zhao Tao ("Mountains May Depart") über Isabelle Huppert ("Valley of Love") bis hin zu Jane Fonda, die in Sorrentinos "Youth" einen kraftvollen Auftritt als alternde Diva hat.
Genau so sieht es bei den Männern aus: Hier liegt Vincent Lindon als arbeitsloser 50-Jähriger in "La loi du marché" vorn, aber Michael Caine, Harvey Keitel ("Youth"), Geza Röhrig ("Son of Saul"), Antonythasan Jesuthasan ("Dheepan") oder Colin Farrell "The Lobster" folgen dicht.
In Cannes zeigt sich das Autorenkino also ein weiteres Mal als sehr lebendig, wenn es auch einen neuen Trend gibt: Es wandelt sich mehr und mehr zum Schauspielerkino. Hollywood-Schauspieler werden für das Autorenkino immer wichtiger: Allein in fünf der europäischen Beiträge spielen Hollywooddarsteller mit, vier davon sind deshalb in Englisch gedreht - auch ein Trend von Cannes 2015.