Cannes (epd)Eigentlich dreht sich alles um Filme, doch am schönsten ist es in Cannes, wenn ein kleiner Skandal hinzukommt. In diesem Jahr erfüllt diesen Wunsch nach gemeinsamer Aufregung das mit dem Hashtag #flatgate auf Twitter zum Trend gewordene "Stöckelschuhgebot". Eine Branchenzeitung hatte berichtet, dass mehrere Besucherinnen der Premiere von Todd Haynes' Film "Carol" nicht eingelassen wurden, weil sie flache Schuhe trugen.
Ohne hohe Absätze geht nichts
Das Protokoll in Cannes sieht für Galavorstellungen "Abendgarderobe" vor, für Männer bedeutet das Anzug und Fliege, für Frauen offenbar hohe Absätze. Zwar dementierte Festivaldirektor Thierry Frémaux am nächsten Tag den Zwang zum Stöckelschuh, doch sprachen in dem Fall die Erfahrungsberichte Betroffener für sich selbst. Benicio del Toro und Josh Brolin, die Stars des Drogenkriegsdramas "Sicario" erklärten ihre Solidarität, indem sie scherzhaft bekundeten, zu ihrer Premiere hochhackige Schuhe tragen zu wollen.
So klein und oberflächlich der Anlass scheinen mag, so groß war doch die Welle, die er schlug. Trifft er doch von einer etwas anderen Seite den wunden Punkt des Festivals von Cannes, nämlich sein mangelndes Bemühen in Sachen Gleichberechtigung. Immer wieder war in den letzten Jahren der Mangel an weiblichen Regisseuren im Wettbewerb kritisiert worden.
Zwei von 19 Filmen von Frauen - ein Fortschritt
Dass diesmal zwei von 19 Filmen von Frauen sind, galt schon als gewisser Fortschritt. Dass der außer Konkurrenz laufende Eröffnungsfilm von einer Frau stammte und mit der 86-jährigen französischen Regisseurin Agnès Varda nun zum ersten Mal eine Frau mit einer Ehrenpalme geehrt wird, verführte manche Medien bereits dazu, Cannes 2015 zum "Jahr der Frau" auszurufen. Das #flatgate machte klar, dass es mit der Emanzipation in Cannes nicht ganz so einfach ist.
Zur Befriedung der Aufregung aber trug bei, dass zwar ausgerechnet die Filme der beiden Regisseurinnen, beide Französinnen, enttäuschten, es dafür in diesem Jahr aber geradezu eine Schwemme an starken Frauenfiguren in den Filmen der Männer gibt. Haynes' lesbisches Liebesdrama "Carol" mit einer herausragenden Cate Blanchett in der Hauptrolle machte da erst den Anfang.
Starke Protagonistinnen
So steht im Drogendrama "Sicario" vom Spannungsmeister Dennis Villeneuve mit Emily Blunt eine taffe FBI-Agentin im Mittelpunkt, die gegenüber Josh Brolin und Benicio del Toro auch ihre moralische Standfestigkeit behauptet. In allen drei Beiträgen aus Asien ging es um Frauen und ihre Schicksale: Der Japaner Hirokazu Kore-eda erzählte ein zärtlich-intimes Drama um vier Schwestern, der Film "Mountains May Depart" vom Chinesen Jia Zhang-ke begleitet melancholisch eine Frau und ihre verlorenen Lieben über drei Jahrzehnte. Bei Hou Hsiao-sien aus Taiwan, der mit einem kunstvoll verlangsamten Martial-Arts-Drama überraschte, ist der titelgebende "Assassin" weiblich.
Und auch wenn wie in Paolo Sorrentinos Rhapsodie zum Thema Alter mit Michael Caine und Harvey Keitel zwei alte Männer größtenteils das Wort führen, gehörte auch hier der beste Auftritt einer Frau: Jane Fonda gibt eine grandiose Performance als gealterte Diva, die sehr wohl weiß, was sie noch wert ist, und dem vom Keitel gespielten Regisseur eine so eisige wie kraftvolle Absage erteilt.
Frauenfiguren ohne drollige Klischees
Selbst in den drei hochkarätigen Filmen, die als Zugeständnis an kommerziellere Geschmäcker außer Konkurrenz gezeigt wurden, setzte sich dieser Trend fort: In "Mad Max: Fury Road" ist die eigentliche Hauptfigur die von Charlize Theron gespielte Kämpferin Furiosa, der Dokumentarfilm "Amy" verneigt sich vor dem viel zu früh aus der Welt geschiedenen Talent der Sängerin Amy Winehouse. Und dem Animationsfilm aus dem Hause Pixar-Studio gelang es, gleich mehrere mädchenhafte Figuren zentral zu setzen, ohne sie auf ihre Drolligkeit oder andere Mädchenklischees zu reduzieren.