UN-Charta in Kraft
Von Jan Dirk Herbermann (epd)
Genf (epd)Der Generalsekretär der Vereinten Nationen ist ein Meister der Diplomatie. Seine unverbindlichen, wolkigen Reden ermüden. Doch wenn es um Syrien geht, spricht der Südkoreaner Ban Ki Moon Klartext. Anlässlich der UN-Gründung vor 70 Jahren resümierte der achte Generalsekretär: Die UN seien oft "ein Ort der Frustration und der Unentschlossenheit. Manchmal können sie auch ein Ort der wahnsinnig machenden Untätigkeit sein - wie Syrien am eindrucksvollsten demonstriert".
"Welt im Krieg"
Tatsächlich bieten die Vereinten Nationen in ihrem Jubiläumsjahr 2015 kein gutes Bild. Die Organisation mit heute 193 Mitgliedsstaaten spielt bei ihrem wichtigsten Ziel, der Schaffung von Frieden, nicht die Rolle, die viele Menschen bei ihrer Gründung erhofft hatten. Genau vor 70 Jahren, am 24. Oktober 1945, trat die UN-Charta in Kraft: Es war der Geburtstag der Weltorganisation. Rund vier Monate vorher, am 26. Juni 1945, hatten Vertreter von 50 Staaten in San Francisco das völkerrechtliche Regelwerk unterzeichnet.
Angesichts des Schreckens des Zweiten Weltkrieges sollte der neue Staatenbund mit seinem Herzstück, dem Sicherheitsrat, eine Ära des gewaltlosen Miteinanders einleiten. "Künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren", wurde von den Gründungsstaaten als Leitmotiv ausgegeben.
Doch sieben Jahrzehnte später halten viele blutige Konflikte die Welt in Atem, immer neue brechen auf: Vom Südsudan über Syrien und den Irak bis in die Ukraine und Afghanistan sprechen die Waffen. Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, António Guterres, spricht resigniert von einer "Welt im Krieg". Seit Ausbruch des Syrien-Konflikts 2011 wurden Schätzungen zufolge 250.000 Männer, Frauen und Kinder getötet. Terrormilizen wie der "Islamische Staat" errichten eine Gewaltherrschaft. In den Krisenländern hungern Millionen Menschen, Kämpfe zerstören Infrastruktur und Wirtschaft.
Hilf- und kopflose Regierungen
Insgesamt sind mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und Gewalt - weit mehr als 1945, am Ende des Zweiten Weltkrieges, dem Gründungsjahr der Vereinten Nationen. Hunderttausende verzweifelte Flüchtlinge schlagen sich ins reiche, friedliche Europa durch. Viele Regierungen des Kontinents agieren angesichts des Zustroms hilf- und kopflos. "Die globale Flüchtlingskrise ist eine der wichtigsten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, aber die internationale Gemeinschaft hat bislang kläglich versagt", erzürnt sich der Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, Salil Shetty.
Wenn Experten wie Shetty von der "internationalen Gemeinschaft" reden, dann meinen sie in erster Linie die Vereinten Nationen. Diese treten jedoch nicht als ein einheitlicher Akteur auf. Es gibt eine Vielzahl von Institutionen wie den Generalsekretär oder das Kinderhilfswerk Unicef. Geht es um Krieg und Frieden, dann sollte laut Charta der Sicherheitsrat in Aktion treten.
In den vergangenen Jahren aber ließen die 15 Mitglieder des mächtigsten UN-Gremiums viele Konflikte treiben, statt einzugreifen. Zudem schaffte es der Rat nicht, den Ausbruch neuer Konflikte zu verhindern. Hauptursache der Passivität: Das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich. Sie können mit ihrem Einspruch jeden Beschluss des Rates vereiteln. Sobald die Interessen der Vetomächte aufeinanderprallen wie im Falle Syrien oder Ukraine, glänzt der Sicherheitsrat durch Nichtstun.
Grundlegende Reform
Allerdings dürfe das Vetorecht nicht pauschal verurteilt werden, sagt der Frankfurter Politikwissenschaftler Harald Müller. Das Vetorecht solle verhindern, "dass eine Mehrheit des Sicherheitsrates gegen die vitalen Interessen einer Großmacht den Gewalteinsatz beschließt", analysiert der Friedensforscher Müller: "Es folgt der Intention, dem großen Krieg vorzubeugen."
Seit langem dringen Politiker und Fachleute auf eine grundlegende Reform des Rates. So präsentierte eine international besetzte Kommission unter Ko-Vorsitz der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright Vorschläge für ein verändertes Abstimmungsverfahren, womit das Veto teilweise entschärft werden soll. Nur: Bislang scheiterten alle grundlegenden Reform-Initiativen für den Sicherheitsrat am Widerstand eben jener Vetomächte. Somit muss Generalsekretär Ban den Zustand der Vereinten Nationen 70 Jahre nach ihrer Gründung so zusammenfassen: Die Organisation "bleibt ein unvollendetes Werk".