Frankfurt a.M. (epd)Behördengänge, Arztbesuche oder selbst Spieleabende mit Kollegen waren für Karl Lehrer lange Jahre ein Graus. Mit Ausreden wie "Brille vergessen" oder "Schau doch selbst oder kannst du nicht lesen?" hatte der 51-Jährige stets versucht, seine Schwäche zu verbergen: funktionaler Analphabetismus. Ein Problem, das über sieben Millionen Erwachsene in Deutschland betrifft.
Laut einer Studie der Universität Hamburg sind in Deutschland 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren funktionale Analphabeten. Das heißt, sie können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, nicht jedoch ganze Texte. Die Folgen sind: ein begrenzter Zugang zum gesellschaftlichen Leben und soziale Diskriminierung. Dennoch sind laut der Studie über die Hälfte der funktionalen Analphabeten erwerbstätig.
Verträge blind unterschrieben
"Die Betroffenen richten sich ihr Leben ein. Die meisten haben ihr Leben im Griff", erklärt Elfriede Haller. Die ehemalige Vorsitzende des Bundesverbands für Alphabetisierung und Grundbildung setzt sich seit über 30 Jahren für Analphabeten ein. Viele hätten Arbeit und Familie. Aus Scham würden sie sich aber nur selten zu ihrer Schwäche bekennen - manche verheimlichen sie sogar in der eigenen Familie.
Dies hat fatale Folgen: Aus Angst, ein Formular ausfüllen zu müssen, mieden viele funktionale Analphabeten Arztbesuche. Andere unterschrieben blindlings Verträge. Viele fühlten sich nur als "halbe Menschen", so Haller.
Dieses Gefühl hatte auch Karl Lehrer: Bis zu seinem 26. Lebensjahr lang konnte er kaum lesen und schreiben. Als drittes von insgesamt sieben Kindern wurde er 1963 in Ludwigshafen geboren. Seine Mutter war arbeitslos, das Geld oft knapp. Der Vater hatte die Familie früh verlassen.
In der Kindheit vernachlässigt
Schon in der ersten Klasse kam Lehrer beim Lesen und Schreiben nicht mit. Ein halbes Jahr später wechselte er an die Sonderschule. "Zu Hause hat sich niemand um meine Lese- und Schreibschwäche gekümmert", sagt Lehrer. Mit 13 Jahren kommt der Schüler ins Heim, mit 16 verlässt er die Schule - ohne Abschluss und ohne lesen zu können.
So oder so ähnlich gehe es vielen funktionalen Analphabeten, erklärt Haller. Viele Betroffene seien in ihrer Kindheit vernachlässigt worden. "Viele Eltern haben kein Verständnis dafür, was Bildung bedeutet." Zudem könnten sich Lehrer mangels Zeit oft nicht um schwache Schüler kümmern. Knapp ein Fünftel aller funktionalen Analphabeten, also fast 1,5 Millionen Menschen, hat laut der Hamburger Studie keinen Schulabschluss. Jedes Jahr verlassen etwa 150.000 Menschen das Schulsystem, ohne richtig lesen und schreiben zu können, wie aus einer Berliner Studie des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie hervorgeht.
Nur zehn Selbsthilfegruppen
Nach der Sonderschule schlug sich Karl Lehrer mit Hilfsarbeiten durch. Dass er lesen und schreiben konnte, wurde von den Arbeitgebern vorausgesetzt. Kontrolliert wurde dies jedoch nicht. Trotzdem blieb Lehrers Sehnsucht, Texte schreiben und Bücher lesen zu können: "Ich habe immer gesagt, dass ich irgendwann den Hauptschulabschluss machen werde." Nach der Geburt seines Sohnes beschloss Lehrer, sein Defizit zu überwinden - durch einen Alphabetisierungskurs an der Volkshochschule Ludwigshafen. 2002 holte er seinen Hauptschulabschluss nach und ließ sich zum Lagerlogistiker ausbilden.
Oft fühlten sich Analphabeten mit ihrem Problem allein gelassen, sagt Elfriede Haller. Derzeit gebe es in Deutschland nur zehn Selbsthilfegruppen für Analphabeten. Haller setzt sich für ein flächendeckendes Angebot ein. Ihr Ziel: eine Selbsthilfegruppe pro Stadt. Auch die Zahl der Alphabetisierungskurse müsse erhöht werden. Lesen und Schreiben kann viele Türen öffnen, wie Karl Lehrer heute weiß. Nach Feierabend liest er inzwischen mit Freude ein Buch.