Dieser Film ist ein großartiges Lehrstück, ohne dabei je belehrend zu sein, und erinnert phasenweise an "Die Welle": Eine Lehrerin muss erkennen, dass sie mit einer Entscheidung eine Kettenreaktion ausgelöst hat; die Geister, die sie rief, wird sie nicht mehr los. Die Geschichte ist brandaktuell. An einer säkularen Schule taucht eines Tages eine Schülerin auf, die völlig aus dem Rahmen fällt: Sevda (Ava Celik) ist von Kopf bis Fuß verhüllt. Sie besteht darauf, ein Kopftuch tragen zu dürfen und will nicht am Sportunterricht teilnehmen. Der Direktor (Hans-Jochen Wagner) und auch die Sportlehrerin (Sandra Borgmann) fordern gleiches Recht und gleiche Pflichten für alle, aber ausgerechnet Sevdas Klassenlehrerin Eva Arendt (Iris Berben), eine überzeugte Religionsgegnerin, setzt sich für das Mädchen ein, ohne zu ahnen, welche Eigendynamik die Ereignisse entwickeln. Einige Mitschülerinnen eifern dem Vorbild nach und erscheinen ebenfalls mit Kopftuch; im Keller der Schule hat Sevda einen Gebetsraum eingerichtet. Die anderen Jugendlichen reagieren mit deutlicher Ablehnung. Als eines Tages die ganze Klasse in Burka zum Unterricht erscheint, eskaliert der Konflikt.
Schlicht "Die Neue" heißt dieses fesselnde und ausnahmslos ausgezeichnet gespielte Drama von Buket Alakus, die vor zehn Jahren mit "Eine andere Liga" bekannt geworden ist und zuletzt die Multikulti-Komödie "Einmal Hans mit scharfer Soße" gedreht hat. Sie hatte auch die Idee; das Drehbuch stammt von Christoph Silber, der gemeinsam mit Thorsten Wettcke in den letzten Jahren Vorlagen für einige bemerkenswerte Filme geliefert hat ("Die Wallensteins", "Das Wunder von Kärnten"). Basis für die besondere Stärke der dramaturgischen Konstruktion war die Entscheidung, sich nicht ausschließlich auf den Kopftuchstreit zu konzentrieren. Deshalb ist auch nicht die Schülerin, sondern die Lehrerin die Hauptfigur, und die hat noch ganz andere Sorgen: Die vaterlos aufgewachsene Eva hat gerade ihre Mutter verloren, an der sie sehr hing. Als sie beginnt, den Haushalt aufzulösen, wirft ihr der Halbbruder (Martin Brambach) vor, sie lasse ihm keine Zeit zu trauern. Im Nachlass der Mutter findet sie einen nie abgeschickten Brief an ihren Vater (Otto Mellies): Der Mann war offenbar verheiratet, ihre Mutter war seine Geliebte, und sie fragt sich, ob sie sich mit ihm treffen soll. Gleichzeitig wird ihr die Parallele klar: Auch sie hat ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Diese Nebenebenen sorgen für doppelte Komplexität: Die Lehrerin wird nicht allein auf ihren Beruf und der Film nicht ausschließlich auf den Konflikt reduziert. Trotzdem verzichten Alakus und Silber darauf, die außerordentliche emotionale Belastung der Hauptfigur als Entschuldigung zu nutzen. Für Eva ist die Duldung des Kopftuchs nicht nur ein Zeichen von Toleranz. Der Film thematisiert das nicht weiter, aber es ist gut möglich, dass sich die einst als uneheliche "Frucht der Sünde" (wie die Mutter es in dem Brief formuliert) aufgewachsene Eva in der Außenseiterin wiedererkennt. Davon abgesehen imponiert "Die Neue" ohnehin durch den seriösen und respektvollen Umgang mit dem Thema. Die Entwicklung der Handlung ist jederzeit plausibel und wirkt fast wie eine Fallstudie. Ähnlich wie die Titelfigur der österreichisch-deutschen TV-Koproduktion "Die Freischwimmerin" (2014) trägt Sevda ihr Kopftuch aus freien Stücken. Ihre Eltern (Idil Üner, Tim Seyfi) sind vorbildlich integriert, aber aus Sicht der Tochter haben sie sich angepasst und ihre Wurzeln verraten: "Ohr seid nur noch ein Haufen Scherben."
Auch der Schulalltag wirkt sehr authentisch, inklusive diskriminierender Bemerkungen wie jener, Sevda verberge einen Sprengstoffgürtel unter ihrem wallenden Gewand. Die Jugendlichen hat Alakus gleichfalls ausgezeichnet geführt, allen voran Dennis Mojen als Mitschüler, der sich für Sevda stark macht, und Anna Lena Klenke, die als "Klassen-Barbie" der diametrale Gegenentwurf zur Kopftuchschülerin ist. Die Inszenierung ist ruhig und klar, sie lässt den Schauspielern Zeit, ihre Figuren zu entwickeln. Wie sensibel die Regisseurin die Geschichte erzählt, zeigt sich beispielsweise in dem respektvollen Abstand, den die Kamera (Stephan Wagner) einnimmt, als Evas Mutter stirbt.