Frau Niebch, viele Menschen möchten Flüchtlingen helfen. Wie bereiten sie sich am besten vor?
Hildegund Niebch: Es ist gut, wenn man sich zwei Fragen vorher stellt. Die erste ist: Wieviel Zeit kann und will ich investieren? Geht es darum, dass ich spontan ein oder zwei Tage helfen will oder geht es darum, dass ich mich über einen längeren Zeitraum jede Woche für einige Stunden engagieren will? Kann ich das morgens, mittags oder abends machen? Meine eigene Zeitvorstellung - was realistisch ist und was zu meinem restlichen Leben passt - ist wichtig zu klären. Überlegen muss man sich auch, ob man in einem Asylarbeitskreis mitarbeiten will oder eher längerfristig zum Beispiel in einem Tandemprojekt einen einzelnen Flüchtling oder eine Flüchtlingsfamilie unterstützen möchte.
Als zweites sollte ich schauen, was meine eigenen Stärken und Kompetenzen sind und was ich davon bei der Flüchtlingsarbeit zur Verfügung stellen kann. Ich glaube, was einem selbst Freude macht und worin man gut ist, das kann man auch gut weitergeben. Es sind auch nicht nur Leute in der Flüchtlingsarbeit gefragt, die direkt im Kontakt mit Flüchtlingen arbeiten. Viele Initiativen brauchen jemanden, der die Finanzen regelt oder die Organisation eines Vereins in der Hand hat. Da sind oft ganz andere Fähigkeiten gefragt als im direkten Kontakt mit Flüchtlingen.
Menschen helfen aus den unterschiedlichsten Gründen. Wie wichtig ist es, mich vorher damit auseinanderzusetzen, warum ich helfen möchte und mich mit meiner eigenen Erwartungshaltung zu beschäftigen?
Niebch: Das sollte man sicherlich tun und sich dabei auch damit auseinandersetzen, was für ein Bild man von Flüchtlingen hat. Aufgrund der Berichterstattung und der Bilder, die über die Medien zu uns kommen, sehen Flüchtlinge wie eine große homogene Gruppe von Menschen aus. In der Diakonie reden wir zunehmend nicht mehr von Flüchtlingen, sondern von geflüchteten Menschen, um deutlich zu machen, es geht immer um Einzelne. Und die haben ganz unterschiedliche Vorstellungen und Bedürfnisse von dem, was ihnen das Ankommen erleichtert.
"Flüchtlinge sind per se nicht hilflos"
Mit dem Wort "helfen" wird auch oft assoziiert "Ich helfe" und auf der anderen Seite gibt es ein "Hilfeobjekt". Aber Flüchtlinge sind per se nicht hilflos. Sie bringen eine ganze Menge an Erfahrungen, Fachwissen, Mut und Überlebenskompetenz mit. Ihnen muss also vielleicht gar nicht in unserem Sinne geholfen werden. Wichtiger ist, sie als Subjekt ihrer Lebensgestaltung zu sehen, von einzelnen Geflüchteten zu hören, was er oder sie braucht, um gut anzukommen und dann mit ihm oder ihr zu überlegen, wie ich unterstützen kann, ihre Hoffnungen und Träume zu realisieren.
Wir brauchen alle einen langen Atem, das Thema wird uns noch lange beschäftigen. Unser Bundespräsident hat recht, wenn er sagt: "Diese Aufgabe ist größer als die Bewältigung der deutschen Einheit." Deswegen ist es wichtig, sich jetzt schon zu fragen "Warum will ich etwas tun? Wem will ich helfen?" Wenn es nur darum geht, lachende Kinderaugen zu sehen und ein herzliches Dankeschön zu hören, dann kommt man damit auf lange Sicht nicht weiter. Flüchtlingsarbeit ist immer auch Menschenrechtsarbeit.
Es ist also wichtig, auf den Einzelnen zuzugehen und keine Pauschalhilfe anzubieten?
Niebch: Ja, die Menschen sind so unterschiedlich wie sie nur sein können. Es ist ein großer Unterschied, wo die Flüchtlinge herkommen. Es macht einen Unterschied, aus welchem sozialen Gefüge sie kommen, ob sie mit oder ohne Familie hier sind, welche Bildung sie haben. Es ist gut, diese Unterschiede wahrzunehmen und den geflüchteten Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Also lieber zu fragen anstatt zu meinen, man wüsste selbst am besten, was gut sein könnte.
Wenn Menschen aufeinandertreffen gibt es immer die unterschiedlichsten Gefühle und auch Missverständnisse. Wenn ich geflüchteten Menschen helfe, könnte ich zum Beispiel auf der einen Seite mit Gefühlen wie Hilflosigkeit und Ohnmacht und auf der anderen Seite mit Zurückweisung konfrontiert werde. Wie kann ich als Helfende gut mit solchen Erfahrungen umgehen?
Niebch: Viele Fortbildungsreihen für Ehrenamtliche greifen genau diesen Punkt auf. In einem interkulturellen Kontext kommen Irritationen und Unverständnis vor. Darauf sollte man sich vorbereiten. Nicht in dem Sinne, dass man versucht, alles zu glätten, sondern eher mit einer großen Gelassenheit, Dinge auch stehen lassen zu können und Irritationen auszuhalten. Warum Menschen so oder so reagieren, können wir nicht immer wissen oder erklären. Das Aushalten von Verschiedenheit ist wichtig. Dafür braucht es aber auch Reflektionsräume. Freiwillig Engagierte brauchen die Möglichkeit, darüber zu sprechen: Was passiert ist, warum mich etwas irritiert hat, wie ich das für mich einordnen kann. Wir benötigen an diesem Punkt auf jeden Fall mehr Coaching oder Supervision für Menschen, die ehrenamtlich arbeiten. Auch damit keiner verfrüht aufgibt.
Zu dem anderen Punkt: Flüchtlinge haben viel erlebt, in ihrer Herkunftsregion oder unterwegs. Viele sind traumatisiert. Daraus kann im Umgang mit ihnen auch Überforderung für Ehrenamtliche entstehen. Auch hier ist es wichtig, in Fortbildungen darüber zu sprechen: Wie kann ich Traumatisierung erkennen und wie können ehrenamtlich Engagierte, ohne dass sie Therapeuten sind, zur Stabilisierung auf einer zwischenmenschlichen Ebene beitragen.
Sicherlich gibt es aber auch Situationen, in denen man sagen muss: "Hier stimmt einfach die Chemie nicht." Nicht jeder geflüchtete Mensch muss mir sympathisch sein. Das ist ja im Sportverein oder im Kreis von Kolleginnen und Kollegen nicht anders. Und wenn ich merke, wir kommen hier zusammen nicht klar, dann muss ich mich von demjenigen trennen. Das machen wir sonst auch. Man muss nicht alle mögen und man muss nicht mit allen können. Dann kann man sich von manchen verabschieden und anderen wieder zuwenden.
Warum ist es trotzdem gut, sich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren? Welche positiven Erfahrungen können Helfer machen und welche haben Sie schon ganz persönlich gemacht?
Niebch: Wenn man sich darauf einlässt, ändert sich die Perspektive. Mit den Augen der Flüchtlinge sieht man dieses Land gleichsam "von unten". Man erfährt zum Beispiel, welche bürokratischen und behördlichen Hürden in diesem Land für Geflüchtete existieren oder man kann die Verzweiflung von Menschen spüren, die mit Kind und Kegel wochen- und vielleicht auch monatelang nur auf einem Feldbett ohne Privatsphäre mit Hunderten anderen in Zelten und Turnhallen leben müssen. Das sind Lebensrealitäten in einem reichen Land, die einem sonst gar nicht begegnen.
"Fremdes und Unbekanntes, das man sonst in anderen Ländern sucht, erfährt man hier im Gespräch mit Menschen"
Wenn man neugierig ist in einem guten Sinne, kann man eine ganze Menge darüber erfahren, wie Familienleben, Glauben, Rituale oder Traditionen bei Menschen funktionieren, die nicht hier groß geworden sind. Und wie es diesen Menschen gelingt, das zu behalten und trotzdem hier anzukommen. Fremdes und Unbekanntes, das man sonst in anderen Ländern sucht, erfährt man hier im Gespräch mit Menschen. Man wird mit neuen Werten und Idealen konfrontiert.
Es können auch Freundschaften entstehen, Beziehungen wachsen. Ich hatte zum Beispiel lange Zeit eine gute Beziehung zu einer somalischen Familie. Als meine Mutter gestorben war, hat Faduma mich ein Jahr später am Todestag angerufen und gesagt, wie traurig sie sei, dass meine Mutter gestorben ist. Sie hatte meine Mutter nie kennengelernt. Und trotzdem hat sie drei oder vier Jahre lang immer zum Todestag meiner Mutter angerufen. Selbst mein Mann hatte den Tag nicht mehr auf dem Schirm, aber Faduma rief mich an. Das hat mich tief berührt, weil offensichtlich in ihrem somalischen Kontext es eine ganz andere Präsenz hat, wie man solche Tage begeht. Und mir hat das gut getan. So etwas kann man also auch erleben: andere Traditionen, Rituale, Familienzusammenhänge, die uns vielleicht auch manchmal abhandengekommen sind.