Bielefeld (epd)Immer mehr Menschen sind damit überfordert, sich im deutschen Gesundheitswesen zurechtzufinden: Welcher Arzt ist wofür zuständig, wie bekomme ich dort einen Termin, wie verstehe ich überhaupt, was der Arzt mir sagt und wie beurteile ich, wozu er mir rät? "Das Gesundheitssystem differenziert sich immer weiter aus, und es wird immer schwieriger, die Strukturen zu überschauen", sagt Doris Schaeffer, Professorin für Gesundheitswissenschaften der Uni Bielefeld. Sie erforscht, wie es um die sogenannte "Health Literacy", die Gesundheitskompetenz der Deutschen, steht.
Gemeint ist damit die Fähigkeit, im Alltag Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken. Dazu gehört auch, sich selbstständig grundlegende Gesundheitsinformationen zu beschaffen und sie zu verstehen. Aber auch Arztbesuche wahrzunehmen und am Ende eigenständige Entscheidungen zu treffen. Genau damit aber hätten immer mehr Menschen immer größere Schwierigkeiten, sagt Schaeffer.
Kein klares Ja oder Nein
Die Wissenschaftlerin erforscht zurzeit in zwei Studien, von denen eine in NRW und die andere deutschlandweit läuft, welche Bevölkerungsgruppen besonders von diesem Problem betroffen sind: "Unter der Unübersichtlichkeit des Systems leiden vor allem diejenigen, die dauerhaft darauf angewiesen sind: die chronisch Kranken", sagt sie. Doch auch ältere Menschen, Migranten mit mangelnden Sprachkenntnissen, Menschen mit niedrigem Bildungsniveau und Jugendliche hätten besonders häufig Probleme.
Das Internet kann dabei helfen, sich über Krankheiten und mögliche Therapien zu informieren, und es wird von vielen Menschen auch so genutzt. "Allerdings ist das Internet auch sehr unübersichtlich", gibt Schaeffer zu bedenken. Und gerade ältere Menschen und Migranten nutzten entweder generell kein Internet oder zumindest nicht, um im Netz bei gesundheitlichen Problemen Orientierung zu finden. Zudem bräuchten sie oft Unterstützung, um die Inhalte zu verstehen.
"Informationen allein helfen auch nicht unbedingt weiter", sagt Stefan Palmowski von der Unabhängigen Patientenberatung in Dortmund. "Denn im Gesundheitswesen gibt es nie ein klares Ja oder Nein. Es geht immer darum, dass etwas dieses oder jenes Risiko beinhaltet und abgewogen werden muss." Viele Patienten hätten auch Schwierigkeiten, im Internet seriöse Informationen von einseitiger und von Wirtschaftsinteressen beeinflusster PR zu unterscheiden. Ratsuchende lädt er dazu ein, sich an die Patientenberatung zu wenden.
Mehr Zeit für Patienten
Doris Schaeffer hält es für unverzichtbar, auf unterschiedlichen Ebenen darüber nachzudenken, wie sich die Gesundheitskompetenz verbessern lässt: "Man sollte das Thema etwa Teil der Ausbildung werden lassen." Schon in Kitas und an Schulen könnte etwa das Unterrichtsfach "Gesundheit" mit dazugehören. Ärzte, Apotheker und Pflegepersonal müssten extra geschult werden, um mit benachteiligten Menschen besser kommunizieren zu können.
Und auch im Alltag müssten sich Strukturen ändern, zum Beispiel, indem Hausärzte mehr Zeit für ihre Patienten erhalten. In Krankenhäusern könnten Piktogramme bei der Orientierung helfen, damit sich dort auch Menschen zurechtfinden, die die Begriffe nicht verstehen oder lesen können.
Teuerste Pforte ins Gesundheitswesen
Auch bei vielen Krankenkassen setzt ein Umdenken ein. "Wir haben das schon vor vielen Jahren als Problem erkannt und arbeiten daran", sagt Teresa Urban von der Techniker Krankenkasse in Hamburg. Sie bietet ihren Versicherten etwa eine Kursreihe mit dem Titel "Kompetent als Patient" an. "Dabei geht es etwa darum, wie ich mich auf einen Arztbesuch vorbereite oder wie ich den geeigneten Gesundheitsdienstleister finde", sagt Urban.
"Die Folgen einer mangelnden Gesundheitsbildung belasten die Krankenkassen und das gesamte System", warnt Doris Schaeffer. Denn Menschen, die sich nicht zurechtfänden, suchten häufig die Notfallambulanzen der Krankenhäuser auf. "Das ist aber die teuerste Pforte in unser Gesundheitswesen, denn der Besuch dort kostet unser System viel mehr als der Gang zum Hausarzt."